Bevor man über das Fremde
spricht, möchte ich auf vier ähnliche Begriffe aufmerksam machen: das „Exotische“,
das „Fremde“, das „Andere“ und das „Exzentrische“.
Das
„Exotische“ liegt außerhalb des Kreises des „Ich“ oder des „Wir“. Das Exotische
befindet sich jenseits der Grenzen, die mein „ich“ oder unser „wir“ definieren.
Das Exotische ist das rein Unbekannte. Weil es gänzlich unbekannt ist, bleibt
es geheimnisvoll. Wir ahnen seine Existenz. Es kann sogar sein, dass wir von seiner
Existenz gehört haben. Aber alle unsere Kenntnisse über das Exotische steht im
Zusammenhang mit Träumerei, mit Erzählung und Märchen.
Das
„Fremde“ steht am Rande meines „ich“, meiner Gruppe oder meiner
Gesellschaft. Das Fremde ist unbekannt, aber nicht unbewusst. Wir wissen, dass
es das Fremde gibt. Es kann sogar sein, dass es wie Georg Simmel behauptet, Teil
der Gruppe ist.
Wenn
Georg Simmel Recht hat, worin besteht die Zäsur zwischen dem Fremden und der
Gruppe? Meiner Meinung nach können wir diese Zäsur wie folgt bestimmen: Auch
wenn das Fremde, der Fremde da ist, haben wir als „Ich“, als Gruppe, mit
ihm nichts zu tun. Dieses „nichts mit dem Fremden zu tun haben“ ist das
wesentliche Merkmal im Verhältnis zu dem Fremden. Das bedeutet: Wir bauen unser
„Ich“, unsere Gesellschaft nicht mit dem Fremden auf. Es gibt keine Zusammenarbeit,
keinen gemeinsamen Aufbau. Das einzige, was es geben kann, ist – wie Simmel
zeigt – der Handel, der Austausch von Waren.
Die
„Entfremdung“, mich selbst als fremd von mir selbst zu sehen, bedeutet, dass
ein Teil von mir nicht mehr mit mir meine Existenz aufbauen kann. Die Technik
als etwas „Fremdes“ zu sehen, bedeutet vor allem, dass ein Aspekt der
Gesellschaft (die Technik) nicht mehr Sinn beim Aufbau der Gesellschaft verleihen
kann. Es kann sein, dass dieser Aufbau eine neue Orientierung, eine neue
Richtung durch das Fremde, durch die Entfremdung nimmt, oder dass wir durch
diese Entfremdung merken, dass wir eine neue Richtung nehmen sollen.
Das
Fremde (der Fremde) schweigt über unseren Aufbau. Er ist der Beobachter, der
schweigt. Aber gerade dieses Schweigen zwingt uns, über unseren Aufbau zu
reflektieren, über uns selbst zu reflektieren.
Das
Fremde bedeutet eine Gefahr. Aber keine Gefahr im traditionellen Sinne des
Krieges oder des Kampfes. Meiner Ansicht nach kann das Fremde (der Fremde)
niemals eine Gefahr im traditionellen Sinne bedeuten, gerade weil es (er) wie
Georg Simmel behauptet, keinen Boden hat. Das Fremde (der Fremde) kann aber von
der der Mehrheitsgruppe als Gefahr definiert werden, um bestimmte
Eigeninteressen zu erreichen. Zum Beispiel, die interne Kohäsion der Gruppe zu
verstärken.
Die
Gefahr des Fremden besteht darin, dass es (er) uns zur Reflexion über unser
eigenes Ich, unseren eigenen Aufbau zwingt. Diese Selbstreflexion ist
gefährlich, weil sie zur einer Orientierungskrise führen kann.
Das
Fremde drängt uns, unseren Bau zu betrachten, (nicht unbedingt aber, diesen Bau
zu bewerten). Die Betrachtung selbst ist schon bedrohlich genug.
Das
Fremde ist das Unbekannte, das in unseren Kreis schon hineingekommen ist, auch
wenn es noch nicht dessen Teil geworden ist. Die Freiheit, die das Fremde, -
wie Simmel sagt – besitzt, kann man meiner Meinung nach als Verdammung ansehen,
als Strafe, wie dies beim „ewigen Juden“ der Fall ist, oder als Möglichkeit,
wie Robert Ezra Park meint, Kosmopolit zu werden.
In
gewisser Art und Weise ist der Fremde auch, was der „Marginal Man“ für Robert
Ezra Park ist: jemand, „der in zwei unterschiedlichen Welten ist“. Jemand,
„der den Konflikt des „divided self, the old self and the new self“ in sich
trägt.“ (Zitiert von Sonja Deml „Der Fremde bei Georg Simmel, Alfred Schütz
und Robert E. Park.) Problematisch ist allerdings folgendes: Wie kann Robert
Ezra Park wissen, was das (der) Fremde fühlt, und warum behauptet er, dass der
Fremde ein gespaltenes Wesen sei. Park betrachtet den Fremden als Emigranten,
als „étranger“. Aber zwischen Fremden und Emigranten bestehen viele Unterschiede.
Ebenso sollte man nicht vergessen, dass das Fremde ständig in uns selbst
präsent ist. Die soziologische Analyse von Robert E. Park berührt in gefährlicher
Weise die psychologische Sphäre, vor allem wenn er sagt, dass die Psyche des
Fremden wegen seines „gespalten Ich“ instabil sei.
Extrem
interessant scheint mir, was Georg Simmel in seinem Exkurs über den
Fremden sagt. „Der Fremde nicht in den (…) Sinn gemeint, als der Wandernde, der
heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen
bleibt. (…) Die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe
fern ist, das fremd sein aber, dass der Ferne nah ist. (…) Der Fremde ist eben
seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur in dem physischen
Sinne verstanden ist, sondern in dem übertragenen einer Lebenssubstanz (…) Weil
er nicht von den Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die
einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist (…) ist (der Fremde) durch
keinerlei Festgelegtheiten gebunden (…). Diese Freiheit, die den Fremden auch
das Nahverhältnis wie aus der Vogelperspektive erleben und behandeln lässt,
enthält freilich allerhand gefährliche Möglichkeiten. (…) Mit all seiner
unorganische Angefügtheit ist der Fremde doch ein organisches Glied der Gruppe,
deren einheitliches Leben diese besondere Bedingtheit dieses Elementes
einschließt.“
Das
„Andere“ (der Andere): Das Andere ist der Spiegel von uns selbst. Das
Andere ist das Alter Ego des „Ich“. Das Andere ist „der Andere“ von Levinas.
„Ich“ bin „ich“, weil es ein „Du“ gibt. Dieses „Du“ ist mein Spiegel, meine
Grenze, meine Möglichkeiten. Das Wortpaar: „Freund/Feind“ bezieht sich immer
auf das „Ich“ und das „Andere“. Hier findet die reale Konfrontation, der wahre
Kampf, statt. Das Andere ist ein Mitglied meiner Gruppe. Das Andere (der
Andere) ist die Referenz und auch die Herausforderung. Er ist mein Alliierter,
aber gleichzeitig auch mein Rivale. Das Andere ist der Freund, der von einem
Tag auf den anderen der Feind werden kann. Deshalb ist das Fremde (der Fremde)
so wichtig für die Gruppe. Das Fremde (der Fremde) dient als integrative Figur.
Wenn es keinen Fremden gibt, muss man ein Fremden erschaffen (Rassismus,
Homophobie, religiöse Intoleranz, Nationalismus…) Man sucht Differenzmerkmale,
um auszuschließen. Die Uniformierung der Eigengruppe ist so gesehen, nicht nur
positiv gesehen, sondern sogar gewünscht.
Das
„Exzentrische“ (Der Exzentriker) gehört zur Gruppe, will sich aber von der
Gruppe unterscheiden. Das Exzentrische ist das, was die Uniformierung verneint.
Der Exzentriker gehört zur Gruppe, will aber „anders“ werden, „anders sein“. Er
ist das „enfant terrible“, er ist der „Snob“, er ist der „Rebell“, er ist der „Verrückte“,
er ist das „Genie“. Der Exzentriker ist immer ein Individualist. Ein eigenes
„ich“, das sich gegenüber der Uniformierung der Gesellschaft durchzusetzen
sucht. Wenn es eine Gruppe von Exzentrikern gibt, ist es genauso wie wenn es
eine Gruppe von Mystikern gibt: der Anfang einer neuen Gruppe, einer neuen
Tendenz. Im Fall der Gruppe der Mystiker, der Anfang einer neuen Religion (Isaac
B. Singer).
Das
Fremde (der Fremde) ist der Beobachter, der unseren Aufbau mit Schweigen betrachtet,
ohne an diesem Aufbau teil zu nehmen. Wie wir dieses Schweigen bewerten ist
unsere Sache. Wie viel Bedeutung wir diesem Schweigen und dieser Beobachtung
geben ist unsere Sache. Der Feind sowie der Freund ist das Fremde (der Fremde)
nie. Der Feind sowie der Freund ist immer das Andere, der Andere: unser
Spiegel.
Isabel Viñado Gascón.
(Dieser Artikel erschien erstmals in MoMo PubTalk am 13.09.2020)
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