Sonntag, 8. Juni 2014

KONTRAPUNKT DES LEBENS (1928) Aldous Huxley

Dieser Roman ist extrem komplex. Huxley ist nicht so sehr an der Handlung interessiert wie an der Exposition seiner eigenen Überzeugungen, Ängste und Wünsche in Bezug auf die Gesellschaft. Ihm ist  bewusst, dass die Gesellschaft, die er kennt nicht „die Gesellschaft“, sondern „seine Gesellschaft“ ist. Deshalb bleibt er dort, wo er hingehört: in den reichen gebildeten englischen Kreisen. Von diesem sozialen Standpunkt aus schreibt er seine Analyse. Huxley ist kein „enfant terrible“. Er liebt seine Wurzeln und verzweifelt versucht er sie am Leben zu halten. Die Zeit läuft ab. Eine Lebensform stirbt, ohne die alten Probleme gelöst zu haben. Im Gegenteil: Sie haben sich verschlimmert. Die neuen Generationen müssen sich weiter mit ihnen auseinandersetzen. Der Elfenbeinturm, in dem er und seine Kreise leben, wird der Brandungswelle nicht widerstehen können. Werden die neuen Herrscher besser werden? Kaum, denkt Huxley. Herrschen und Regieren ist nicht mehr eine Sache der Personen, sondern der Kollektive, und die Kollektive können nicht richtig denken, nicht richtig fühlen. Herrschen und Regieren ist kein Sandkastenspiel, sondern besteht darin, Probleme zu lösen; und die Probleme sind zu groß, zu schwierig, zu komplex geworden. Wie jemand einmal geschrieben hat: Wir würden eigentlich eine Gesellschaft von Helden brauchen. Die Angst von Huxley und vielen anderen war, dass wir uns eher für eine Herden-Gesellschaft  entscheiden würden.

„Kontrapunkt des Lebens“ behandelt mehrere Themen. Ich werde sie in einer Reihe von Blogs analysieren:

-          „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley.
1.       Huxley und Virginia Woolf: Gesellschaft, Männer und Politik.
-          „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley.
2.       Huxley und Virginia Woolf. Frauen: das Verschwinden des Konfliktes zwischen Pflicht, Befreiung und Hedonismus.
-          „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley
3.       Huxley und Virginia Woolf. Die Neuankömmlinge. Nichts Neues in Sicht… vorerst.
-          „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley
4.       Huxley und Nietzsche. Aufklärung: Das schwierige Gleichgewicht zwischen Vernunft und Gefühl.
-          „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley
5.       Huxley und die dunkle Kräfte der Romantik.  Die Ära des Nationalismus und der Mystik.
Es dauerte mehrere Monate bis ich diese Reihe von Blogs auf Spanisch abgeschlossen hatte. Die Aufgabe einer deutschen Übersetzung schien mir zuerst  fast unmöglich. Jetzt muss ich zugeben, dass sie sogar zur Verbesserung des ursprünglichen spanischen Blog beigetragen hat.

Huxley und Virginia Woolf: Gesellschaft, Männer und Politik

Viele sehen in Aldous Huxley und Virginia Woolf Antagonisten, weil der erste sich auf den Ideengehalt konzentriert, während die andere stärker auf die Form achtet. Auch wenn diese Bemerkung richtig ist, so ist auch zu bemerken, dass das Bild, das sie von der englischen Gesellschaft zeichnen, ziemlich ähnlich ist. Was nicht sonderbar ist, wenn wir bedenken, dass sich beide Schriftsteller in denselben elitären und gebildeten Kreisen bewegen. In dem Roman von Virginia Woolf: „Mrs. Dalloway“ wird sogar der Name des Großvaters von Aldous Huxley und bekannte Malthusianer, Thomas Huxley als eine der Lieblingslektüren der Protagonistin zitiert.
Ich habe keine Zweifel daran, dass Virginia Woolf behaupten würde, dass die Unterschiede zwischen Huxley und ihr auf ihr verschiedenes Geschlecht zurück zu führen sind. Huxley ist ein Mann. Deshalb schreibt er wie ein Mann und als solcher behandelt er die Themen, die ihn interessieren. Virginia Woolf dagegen ist eine Frau und in ihrer literarischen Arbeit will sie unbedingt das Leben aus der Perspektive einer Frau behandeln.
Ansonsten sind ihre Ähnlichkeiten verblüffend und das schließt auch die Betrachtung der Frau ein.

Hier die Ausgaben, die ich für meine Blogs benutzt habe:
-          Aldous Huxley „Point Counter Point“(1928) Vintage Classics, Random House 2004. Auf Deutsch: “Kontrapunkt des Lebens”
-          Wilkie Collins „The Moonstone“ (1868) Penguin Books, 1994. Auf Deutsch: “Der Monddiamant”
-          Aldous Huxley “Brave New World Revisited” (1958) HarperCollins, 2006. Auf Deutsch: „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“
-          Aldous Huxley “Brave New World” (1932) Vintage Classics, Random House 2004. Auf Deutsch: ”Schöne neue Welt”
-          Virginia Woolf “Mrs Dalloway” (1925) S. Fischer Verlag 2006.

Die Männer der Hohen Gesellschaft

1.       Interesse
Alle Männer, die Huxley und Woolf in ihren Werken beschreiben, gehören zu alteingesessenen englischen Familien und  üben Berufe wie Politik, Kunst oder Medizin aus. Normalerweise war die Praxis der Politik für den ältesten Sohn vorgesehen und die Militärkarriere für den zweiten. Aber es war mehr ein Vorschlag als ein Zwang. Etwas gilt für alle: dass sie zum Leben nicht arbeiten müssen, enthebt sie nicht von ihrer Pflicht, sich für die Welt zu interessieren. Allerdings muss man zugeben, dass es schwierig ist, eine Aktivität zu finden, um sich zu beschäftigen, wenn die materielle Lage abgesichert ist. Es verlangt große Anstrengungen und die Betroffenen fallen häufig in Verzweiflung.

(„Point Counter Point“ S.35-36) ‘But what are you interested in?’ his father had asked. And the trouble was that Lord Edward didn’t know. (…) The fourth marquess could not conceal his anger and disappointment. ‘The boy’s an imbecile,’ he said, and Lord Edward himself was inclined to agree. He was good for nothing, a failure; the world had no place for him. There were times when he thought of suicide.’

Trotz solcher großen Gesten ist – wie Huxley selbst mit seine Figuren zeigt – dieses Interesse an den eigenen Aktivitäten in den meisten Fällen nur oberflächlich. Sogar Lord Edward, der endlich in der Medizin seine Berufung gefunden hat, unterbricht seine wissenschaftlichen Forschungen und rennt ins Wohnzimmer, um der Musik von Bach zu zuhören, die in diesem Moment für die Gäste gespielt wird; Philip, Mr. Quarles Sohn und Elinors Ehemann, ist ein durchschnittlicher Schriftsteller, die mehr Zeit in die Konzeption der künftige Bücher als in die Schreiberei selbst investiert. Was die politischen Meinungen des Journalisten Walter Bidlake betrifft, sie alle mangeln an ideologischer Tiefe. Wie der Butler in dem Buch „Der Monddiamant“  sagt:

(The Moonstone (1868) Wilkie Collins. Pg.58-59) ‘Gentlefolks in general have a very awkward rock ahead in life –the rock ahead of their own idleness. Their lives being, for the most part, passed in looking about them for something to do, it is curious to see –especially when their tastes are of what is called the intellectual sort – how often they drift blindfold into some nasty pursuit’.

2.       Die Politik

Huxleys Roman lässt die Veränderung einer Aktivität – der Politik - durchblicken, deren Praxis bis zu diesem Moment nur einigen wenigen reserviert war. Er zeigt die totalitaristischen Tendenzen einiger politischer Parteien seiner Zeit. Einige wie seine Figur Everard Webley werden solche Ideen hinter der Fassade der Intellektualität und Intelligenz zu verstecken suchen. Der britische Schriftsteller wird sich immer gegen solche Ideen äußern. Huxley wird immer die Demokratie verteidigen, aber ihm ist bewusst, dass sie zu bewahren nicht einfach ist und nicht einfacher sein wird. Es gibt zwei Risiken, auf die Huxley insbesondere hinweist:
-          1. Erstens: Die Entwicklung der Technik ermöglicht bessere Lebensumstände aber verstärkt auch die Neigung zu einer falschen Konzeption des Hedonismus.
-                    2. Zweitens: Die schädlichen Konsequenzen der Industrialisierung für die Umwelt.
Die katastrophale Folge wäre, nach Huxleys Meinung, die Entstehung eines totalitären politischen Regimes.

1.       In der Tat: Die Entwicklung der Technik vermittelt jeder sozialen Schicht Wohlgefühl und ermöglicht ein bequemeres Leben. Aber sie verursacht auch eine Massengesellschaft, deren Merkmale die Uniformierung der Sitten und Gedanken und hedonistisches Verhalten sind. Hedonistisch in dem Sinne, dass Anstrengung nicht mehr der wichtigste Wert ist, sondern die Suche nach Aktivitäten, die ein unverzügliches Vergnügen verschaffen. Wörter wie „Lust“ und „Spaß“ bekommen jetzt gleichsam eine moralische Bedeutung, die sie früher nicht hatten. Gut ist eigentlich nur, was uns „Spaß“ macht. Alles andere ist „Pflicht“. In dem neuen Wertesystem bringt die Pflichterfüllung keine Ehre und keine Befriedigung mit sich, sondern vielmehr nur eine Belastung, eine Kastration der eigenen Fähigkeiten. Auch die Kritik als Bewertungsinstrument für die Qualität einer Produktion verliert ihre Relevanz in der Gesellschaft. Sie wird nur als ein Mittel gesehen, um die kreativen Kräften der Mensch zu behindern. Zum höchsten Axiom wird: Wert ist alles, was sich gut verkauft.
2.       Das zweite Risiko ist die Industrialisierung. Bereits 1928 warnt Huxley, dass die politische Krise darin liegt, dass die Politiker nur an den technologischen Fortschritt denken. Die schädlichen Konsequenzen, die die Industrialisierung in der Umwelt und in den sozialen Strukturen verursacht, kümmert sie nicht.

(„Point Counter Point“ Pg. 74/75) ‘Progress! You politicians are always talking about it. As though it were going to last. Indefinitely. More motors, more babies, more food, more advertising, more money, more everything, forever. You ought to take a few lessons in my subject. Physical biology. Progress, indeed! What do you propose to do about phosphorus, for example?’
His question was a personal accusation.
‘But all this is entirely beside the point,’ said Webley impatiently.
‘On the contrary’, retorted Lord Edward, ‘it’s the only point.’ (…) ‘With your intensive agriculture,’ he went on, ‘you’re simply draining the soil of phosphorus. More than half of one per cent a year. Going clean out of circulation. And then the way you throw away hundreds of thousands of tons of phosphorus pentoxide in your sewage systems! (…) ‘You ought to be putting it back where it came from. On the Land.’
‘But all this has nothing to do with me,’ protested Webley.
‘Then it ought to,’ (…) ‘That’s the trouble with you politicians. You don’t even think of the important things. Talking about progress and votes and Bolshevism and every year allowing a million tons of phosphorus pentoxide to run away into the sea. (…) it’s fiddling while Rome is burning.’

Dreißig Jahre später – im Jahr 1958 - wird Huxley dieses Thema in seinem Essay: „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“ sorgfältig analysieren. Huxley ist überzeugt, dass die Vorteile der Industrialisierung gleichzeitig ihre Nachteile sind. Einerseits hat die Industrialisierung das Leben einfacher gemacht, was zum Wachstum der Geburtenrate führt. Anderseits bedeutet sie die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Beide Faktoren zusammen führen zur eine Steigerung der Bedürfnisse und einem Mangel der Ressourcen, weil sie nicht unerschöpflich sind. Die Energie und Ernährungsquellen werden immer knapper. Es entstehen permanente Krisen die radikale und autoritäre Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung erwarten lassen.

(„Brave New World Revisited“Pg.12) ‘And permanent crisis is what we have to expect in a world in which over-population is producing a state of things, in which dictatorship under Communist auspices becomes almost inevitable’.)

Es ist interessant zu bemerken welche Analogien zwischen den Sorgen Huxleys in  „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“ und der aktuelle Situation bestehen.  Ich persönlich bin der Meinung, dass viele der sogenannten „Verschwörungstheoretiker“ ihre Inspiration und Ängste dort gefunden haben. Ich empfehle ihnen die Lektüre.
Bis diesem Zeitpunkt war die Politik eine traditionelle Möglichkeit für die Mitglieder der höchsten Kreise gewesen. Aber für Viele bedeutet sie jetzt keine akzeptable Entscheidung mehr. Die Politik ist zu komplex geworden. Das wichtigste Ziel in der Politik ist nicht mehr die Ehre der Elite zu schützen und zu beweisen, sondern die Industrialisierung der Gesellschaft. Sie ist nicht mehr Sache der Lords und großen Landbesitzer, sondern der Technokraten. Die alten Zeiten kommen zu ihrem Ende. Nicht mehr Europa, sondern Amerika ist das Modell, das alle anstreben, sogar die Bolschewiken – so Huxley. Amerika ist das Symbol für das neue politische, wirtschaftliche und Wertesystem, das gerade entsteht und gleichzeitig der Beweis dafür, dass das alte nicht länger nützlich ist. In der Tat: Neue Lebensformen erscheinen am Horizont wie schwarze Wolken, die ein starkes Gewitter ankündigen.  Nach Huxleys Meinung kann die Politik dem Bürger keine Lösung anbieten. Die verschiedenen politischen Ideologien unterscheiden sich nur in der Art und Weise wie sie die Gesellschaft  in die Hölle führen werden: Mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Privatwagen. Als prioritäres Ziel haben sie alle die Amerikanisierung und Industrialisierung  der Gesellschaft. Der englische Schriftsteller meint, dass sogar die Bolschewistische Partei das amerikanische Axiom als Vorbild hat. Der Unterschied liegt daran, dass in den kommunistischen Regimen die Verwaltungsbehörden den Trust ersetzen, und die Beamten die Stelle der reichen Männer bekommen haben. Die Situation in Europa ist genauso. Nur hat hier noch die Figur des reichen Mannes ihre Stellung bewahrt hat.
Solche Umstände sind für einige inakzeptabel, für andere zu kompliziert, zu unverständlich, zu irrational und vor allem zu langweilig. Daher beschließen sie, sich aus dem Thema heraus zu halten. Der vernünftige Mensch macht dasselbe. Er ist zu der Überzeugung gekommen, dass der ideologische Kampf eigentlich nur Machtkrieg ist.

(“Point Counter Point” S.390) ‘But it’s silly, all this political squabbling’ said Rampion (…) ‘Bolscheviks and Fascists, Radicals and Conservatives, Communists and British Freeman –what the devil are they all fighting about? I’ll tell you. They’re fighting to decide whether we shall go to hell by communist express train or capitalist racing motor car, by individualist ‘bus or collectivist tram running on the rails of state control. The destination is the same in every case (…) The only point of difference between them is: How shall we get there? It’s simply impossible for a man of sense to be interested in such disputes. (…) The question for a man of sense is: Do we or do we not want to go to hell? And his answer is: No, we don’t. And if that’s his answer, then he won’t have anything to do with any of the politicians. Because they all want to land us in hell. All, without exception. Lenin and Mussolini, MacDonald and Baldwin. (…) They all believe in industrialism in one form or another, they all believe in Americanisation. Think of the Bolshevist ideal. America but much more so. America with government departments taking the place of trusts and state officials instead of rich men. And the ideal of the rest of Europe. The same thing, only with the rich men preserved.’

Ein Jahrzehnt später wird die politische Gleichgültigkeit weder für den bequemen noch für den vernünftigen Mensch ein Zufluchtsort sein können. Wie Franco Battiato Anfang der 80er Jahre in seinem Lied ‚Die weiße Fahne‘ besingen wird: ‚Wie schwierig ist es, ruhig zu bleiben, gleichgültig, während alles rundherum laut ist. In dieser Ära der Irre fehlten nur noch die Idioten des Schreckens‘.

3.       Die private Sphäre

a)      Die Doppelmoral
In den Kreisen, in denen Huxley sich bewegt, endet auf jeden Fall die Sphäre dort, wo er die private berührt. Die private Sphäre ist eigentlich die einzige, die Huxleys Protagonisten interessiert. Für sie hat das Individuum immer einen höheren Rang als das Kollektiv. Die Größe eines Mannes hängt von seiner Fähigkeit ab, sich von der öffentlichen Meinung zu distanzieren und seine eigene durchzusetzen. Deshalb sind die Künstler so sehr geschätzt. So sehr, dass man ihnen die Türen ihrer exklusiven Milieus öffnet.
Trotz dieses Strebens nach der Individualität stellt die Heuchelei, Ironie der Ironie, eines der wichtigsten Merkmale der guten Gesellschaft dar. So wird zum Beispiel Marjorie – die Geliebte von Walter Bidlake (der Sohn von John und Jane Bidlake) - nie akzeptiert. Sie ist eine verheiratete Frau, deren extrem religiöser Mann ihr die Scheidung verweigert. Diese selben Kreise zeigen aber keine Bedenken, Lucy die promiskuitive Tochter von Lord Edward zu akzeptieren. Huxley, immer seinem Wurzeln treu, wird diese Doppelmoral relativieren. Er behauptet, dass die Gründe für die unterschiedliche Behandlung nicht in der sozialen Stellung, sondern in Marjories schrecklicher Stimme zu suchen ist. Marjories Stimme - wiederholt Huxley immer wieder - ist unerträglich.

b)      Die Vorliebe für die Reise.
Die wohlhabende Gesellschaft liebt es, die Welt zu entdecken und neue Kulturen zu beobachten. Europäische Ziele wie Paris und exotische wie Indien sind ein Teil der Bildung geworden. Die Technologie und der Kolonialismus sind die beiden Faktoren, die das Reisen ermöglicht haben. Die Überfahrten sind schneller und bequemer geworden und in den Kolonien schützt das Militär den Komfort der Reisenden. Reisen ist gesund und empfehlungswert nur wenn der Reisende seiner eigenen Kultur treu bleibt. Das heißt: Das Unbekannte soll immer aus der eigenen Perspektive betrachtet werden. Viele denken, dass das nur in Bezug auf Kulturen und Religionen gemeint war. Das ist aber nicht der Fall. Ein Engländer sollte sich in Paris weiter wie ein Engländer verhalten und ein Franzose in London weiter wie ein Franzose. Ansonsten besteht das Risiko, von den eigenen Wurzeln weggeführt zu werden. Collins warnt in seinem Roman „Der Monddiamant“ vor den Gefahren des Kosmopolitismus.

(„The Moonstone“Pg.52) ‚It was not till later that I learned (…) that these puzzling shifts and transformations in Mr. Franklin were due to the effect on him of his foreign training. At the age when we are all of us most apt to take our colouring, in the form of a reflection from the colouring of other people, he had been sent abroad, and had been passed on from one nation to another, before there was time for any one colouring more than another to settle itself on him firmly. (…) He has his French side, and his German side, and his Italian side –the original English foundation showing through, every now and then, as much as to say, ‘Here I am, sorely transmogrified, as you see, but there’s something of me left at the bottom of him still.’

Indien ist die Inspiration für viele Schriftsteller. Einige wie Collins betonen in ihren Romanen den exotischen und geheimnisvollen Charakter. Andere wie Huxley konzentrieren sich lieber auf die politischen und sozialen Probleme des Landes. Sie zeigen die Diskrepanzen, die zwischen Engländern und Indern in Bezug auf Indien herrschen.
Die Engländer verstecken weder ihre rassistischen Tendenzen noch ihre Besorgnis angesichts der Übervölkerung. Ihrer Meinung nach wäre die beste Lösung dafür die Einführung der Geburtenkontrolle. Man darf nicht vergessen, dass Malthus Theorien der vorherrschende Trend in den wissenschaftlichen Kreisen waren. Huxleys Großvater Thomas Huxley war ein bekannter Vertreter dieser Idee gewesen. Es ist eine Frau, Eleanor, die in „Kontrapunkt des Lebens“ dieses Thema aufwirft. Dem  Bedürfnis nach Krankenhäusern und Medikamenten in Indien steht die niedrige Geburtenrate der privilegierten sozialen Klassen in England gegenüber. Grund hierfür sind die Ängste der Frauen vor den Komplikationen der Geburt und ihr Wunsch, sich als Mensch zu entwickeln und realisieren. In „Kontrapunkt des Lebens“ ist Huxleys Haltung hierzu noch nicht definiert. Er wird sich aber weiter mit diesem Thema in ”Schöne neue Welt”(1932) beschäftigen. In „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“ (1958) wird er dann seine radikale malthusianische Auffassung zur Ende denken.
In „Schöne neue Welt“ sind „Gemeinschaft, Stabilität und Identität“ (Community, Stability, Identity) die drei wichtigsten Prinzipien, die die neue Gesellschaft bilden. Das Ideal ist die soziale Stabilität und die Asepsis. Es wird versucht, die traditionellen Merkmale des Menschen wie zum Beispiel seine Emotionalität, auszurotten. Die Zahl der Bevölkerung zu stabilisieren, ist einer der Prioritäten. („Brave New World“ Pg.5).
In seinem Essay „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“ wird er sorgfältiger die Gründe solcher Positionen begründen. Sie haben vor allem mit dem Mangel an natürlichen Ressourcen zu tun. Die Knappheit an Nahrungsmitteln wird die Destabilisierung der Gesellschaft provozieren. Die verschiedenen Regierungen werden gezwungen sein, mehr Autorität zu übernehmen, was für das Überleben der Demokratie ein großes Risiko bedeutet. Nur eine Gesellschaft, die die richtige Maßnahme rechtzeitig ergreift, kann friedlich unter demokratische Prinzipien weiterleben und als „schöne Welt“ bezeichnet werden.
Als Gegensatz zu dieser „schönen Welt“ zeigt Huxley die menschliche Gesellschaft.  Diese Gesellschaft ist fragmentiert und unstrukturiert. Kenntnisse und Aberglaube treten zusammen auf. Ihre Existenz hat mehr mit der von Tieren als mit der von Menschen zu tun. 
Kurz: Für die gebildete europäische Gesellschaft wird das größte Problem darin bestehen, die Knappheit an Ressourcen zu bewältigen.
Die indische Elite dagegen hat andere Kümmernisse. Das erste ist das absolute Unverständnis, das die Engländer gegenüber der indischen Kultur und ihren Traditionen zeigen. Ihr Eurozentrismus hemmt sie zu akzeptieren, dass das wichtigste Problem in Indien nicht die Übervölkerung ist. Die indische religiöse Philosophie behauptet, dass Leben und Tod sich untrennbar verbunden in einem ewigen Prozess befinden, der sich ständig wiederholt. Deshalb brauche man sich nicht viele Sorgen um Leben und Tod zu machen.
Dagegen sind für die Inder die dringenden Probleme: Der englischen Rassismus, unter dem sie leiden, so wie die Förderung der politischen und sozialen Reformen, die die demokratische Selbstbestimmung in ihrem Land aktivieren sollen.

„Point Counter Point“ (Pg. 91)But why don’t you teach them birth control, Mr Sita Ram?’ Elinor had asked (…) ‘Isn’t it the only hope for India?
Mr Sita Ram, however, thought that the only hope was universal suffrage and self-government. He went on with the station-master’s history. The man had passed all his examinations with credit; his qualifications were the highest possible. And yet he had been passed over for the promotion no less than four times. Four times, and always in favour of Europeans or Eurasians. Mr. Sita Ram´s blood boiled when he thought of the five thousand years of Indian civilization, Indian spirituality, Indian moral superiority, cynically trampled, in the person of the station-master of Bhowanipore, under English feet…
‘Is dat justice, I ask?’ He banged the table.
‘Who knows?’ Philip wondered ‘Perhaps it is.’

c)       Die Vorliebe für die Natur.
Neben der Lust auf Reisen und als Gegengewicht dazu fühlen die Mitglieder der guten Gesellschaft eine große Zuneigung zur Natur. Viele leben auf dem Land; andere wie Philip und Elinor Quarrel ziehen dorthin. Trotzdem ist Huxley der Meinung, dass diese Gewohnheit eigentlich nur für Senioren und ruhige Gestalten empfehlenswert ist. Diejenigen, die einen neugierigen und offenen Charakter haben, sollten dort lieber nur als Besuch hingehen.

&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&&

Eine Reflexion über die Politik
Obwohl die Politik immer mehr an Gewicht in der Gesellschaft gewinnt, beweist Huxleys Analyse die Unwirksamkeit der politischen Ideologien für die Lösung der dringendsten sozialen und ökonomischen Probleme. Er antizipiert auch die unglückseligen Konsequenzen, die aus der Hegemonie solcher Ideologien resultieren können. Seine pessimistischen Prognosen werden einen noch gewalttätigeren Grad erreichen als sich irgendjemand damals hätte vorstellen können. Europa wird durch Totalitarismen zerstört werden. Mit Hilfe der Technologie sind neue Waffen entwickeln worden. Ihre zerstörerische Kraft ist nicht nur lebensgefährlich für den Menschen, sondern für den ganzen Planeten. Der wilde Hedonismus - wie er sich schon in der Zwischenkriegszeit zeigte - wird zu einem Pfeiler der neuen Gesellschaft. Huxley behauptet: Promiskuität und Asketismus sind eigentlich zwei Seiten ein und derselben Münze.  Beide äußern einen tiefen Hass gegenüber dem Menschen. Der wilde und promiskuitive Hedonismus setzt sich durch, weil die technologischen Fortschritte dies ermöglichen. In der Wohlstandgesellschaft sind Anstrengung und Selbstüberwindung keine essentiellen Elemente mehr für das Überleben. Sie werden durch andere Elemente wie Anpassungsfähigkeit, Mobilität und geistige Flexibilität ersetzt. Die Konsumkraft und der Umgang mit neuen Maschinen werden die Kennzeichen der neuen Gesellschaft.
1958 vertieft Huxley in „Wiedersehen mit der neuen schönen Welt“ die sozialen Konsequenzen der Industrialisierung. Der Mensch hat aus seinen eigenen Fehlern nichts gelernt. Wie denn auch? Er hat noch nicht erkannt, worin der Ursprung der Probleme liegt. Die politischen Ideologien konnten die ernsten Konflikte ihrer Zeit nicht lösen, aber sie waren nicht ihre Ursache. Sie stecken auch nicht hinter dem Neuen. Huxleys Meinung ist, dass der wahre Schuldige an allem das Phänomen der Industrialisierung gewesen war und weiter sein würde.
Auf jeden Fall werden die politischen Ideologien weiter an Einfluss verlieren. Alle – unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung -  versuchen zu erreichen, was Huxley „Amerikanisierung“ genannt hatte. Niemand wird sich fragen wie viele natürliche Ressourcen nötig sind, um einen solchen Lebensstil zu erreichen.
Nach dem Berliner Mauerfall und Untergang des Ostblocks konzentrieren internationale Organismen immer mehr Macht. Gleichzeitig sinkt das Interesse der Bürger für den politischen Bereich. Die Programme der verschieden Parteien ähneln sich so sehr, dass es eigentlich irrelevant ist, wer die Regierung übernimmt. Ihre Unterschiede liegen in Bagatellen. Alle streben dasselbe Ziel an: Amerikanischer Wohlstand.
Ab 1980 tauchten Parteien mit ganz anderer Konzeption und Geist auf. So wurde in Deutschland die Partei „die Grünen“ gegründet. Ihre Bemühungen waren darauf gerichtet, die Bevölkerung für die Umwelt  zu sensibilisieren. Sie waren von der Hippie-Doktrin der Liebe zur Natur als Äußerung der Harmonie zwischen dem Universum und dem Menschen beeinflusst. Zum ersten Mal in der Geschichte der Politik verfolgte man die Bewahrung der Natur als prioritäres Ziel. Sie versuchten der Bevölkerung bewusst zu machen, dass der Planet Erde ein erschöpflicher Ort ist. Deshalb müssen wir ihn schützen. Die Grünen hatten verstanden, was Huxley sagte: Die wahre Gefahr liegt nicht in den Ideologien, sondern in der unkontrollierte Industrialisierung. Eine der ursprünglichen Aktionen der „Grünen“ war der Kampf gegen die Atomenergie.
Anfang der neunziger Jahre entstanden andere Art von Parteien. Ihre Programme waren teilweise so zynisch wie unhaltbar. Trotzdem weckten ihre Angriffe auf die traditionelle und konventionelle Politik große Sympathien bei den Wählern. In Spanien war eine dieser neuen Parteien „GIL“. Ihre spanische Abkürzung steht für „Unabhängige Liberale Gruppe“. Eigentlich bezog sie sich aber auf den Nachnamen ihres Präsidenten und Begründers: „Gil y Gil“. Es ist war, dass sie nicht lange existiert und nur kurze Zeit in der Kommunalpolitik regiert haben. Sie waren ständig in Korruptionsskandale verwickelt und ihre schädlichen Folgen reichen bis zu unseren heutigen Tagen. Aber die Existenz solcher Parteien zeigte die Politikverdrossenheit vieler Bürger.
Eigentlich drückten „die Grünen“ mit ihren vernünftigen und dringend notwendigen Vorschlägen ein und dieselbe Idee aus wie die zynische, populistische und demagogische „GIL“: Die alte Ideologien waren obsolet. Neue Formen organisierter politischer Gruppierungen waren unentbehrlich.
Auch die neuen Parteien, die in den letzten Jahren in Deutschland entstanden sind, folgen dieser Idee. Nur „die Linke“ hat die gewohnten Strukturen. Die anderen haben sich mehr nach dem Modell bürgerschaftlicher Plattformen konfiguriert. Ihre Ziele konzentrieren sich auf einen bestimmten politischen Anspruch. So kämpfen „die Piraten“ zum Beispiel für die absolute Internetfreiheit und die „Alternative für Deutschland“ (AfD) gegen die Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung.
Auch wenn die Ideen dieser neuen Gruppen eine große Unterstützung der Wähler bekommen; sie alle haben eine Nachteil: die globale Perspektivlosigkeit der Gesellschaft und ihre Probleme in ihren politischen Programmen, weil sie sich nur um ein Thema kümmern. Die Konsequenz ist die innere Spaltung, sobald sie den Sprung ins Parlament geschafft haben. Dann müssen sie sich nämlich mit der Komplexität der politischen Probleme und zwar aller auseinander setzen; und nicht nur mit dem politischen Thema mit dem sie angetreten sind.
Ihre Existenz aber enthält einen essentiellen Trend: die Bürger sammeln sich nicht mehr (oder nicht nur) unter der Fahne der Liberalen, Faschisten, Sozialisten oder Konservativen, sondern nach konkreten und bestimmten Bedürfnissen.
All diese Gruppen werfen eine gemeinsame Herausforderung auf. Nämlich: Eine globalisierte Gesellschaft wie die unsere verlangt nach einem radikalen Wechsel der politischen Strukturen und Organisation.

Isabel Viñado-Gascón

Fortsetzung folgt …
                                                                                    
                                                                                                                           



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.