Sonntag, 26. Januar 2014

LEBEN DES GALILEI (1939) Bertolt Brecht - Erstaufführung in Zurich in 1949


Viele intelligente Leute wie Hans Sahl haben nie verstanden, warum Brecht seinen kommunistischen Überzeugungen selbst dann noch treu geblieben ist, als eigentlich niemand mehr die schrecklichen Konsequenzen des realen Sozialismus bezweifeln konnte. Meiner Meinung nach ist Brechts Haltung auf die Tatsache zurückzuführen, dass er ein Wahl-Berliner war und er sich ein sehr charakteristisches Merkmal der Berliner zu eigen gemacht hat: ein Großmaul zu sein.

Deshalb würde es mich nicht überraschen, wenn mir jemand sagen würde, dass der Mensch Brecht privat viel radikaler als in seinen Werken war. Trotzdem bin ich ebenso überzeugt, dass es im Theater war, wo Brecht seine Standpunkte ehrlich und authentisch formuliert hat.

In seinem Stück „Leben des Galilei“ beschäftigt sich Brecht mit dem Thema der Wahrheit. Im Gegensatz zu Platon interessiert er sich aber nicht für die unterschiedlichen Wahrheitsgrade, die die Aussagen über die Wirklichkeit besitzen. Für ihn ist die zentrale Frage, wie sich der Mensch gegenüber der Wahrheit verhält, wenn diese von den Machthabern verboten wird. Die Wahrheit, die Brecht interressiert, ist nicht die metaphysische Wahrheit. Schon zu Beginn seiner literarischen Aktivität hatte er stets behauptet, dass die metaphysisiche Welt –falls es so etwas gibt- zu weit weg ist, um unsere empirische Realität zu betreffen.

Auch die politische Wahrheit interessiert Brecht nicht. Bereits 1930 hatte er in seiner Schuloper „Der Jasager und der Neinsager“ geschrieben, dass es in sozialen Fragen keine einzige Wahrheit, sondern nur die Moglichkeit einer rationalen Betrachtung der Umstände gäbe, auf deren Grundlagen man die eine oder die andere  Entscheidung treffe.

Brecht nimmt sich im „Leben des Galilei“ vor, die Verteidigung der Wahrheit gegenüber der politischen Macht, die sie zu annullieren versucht, zu analysieren. Er nähert sich dieser Problemstellung am Beispiel der wissenschaftlichen Wahrheit: denn sie birgt am meisten Rationalität und Genauigkeit in sich. Das erlaubt ihm, sich auf die Kernfrage des Problem zu konzentrieren. Nämlich: wie soll der Mensch handeln, wenn er die Wahrheit kennt – und zwar eine wissenschaftlich geprüfte und bestätigte Wahrheit -, die die politische Macht aber nicht akzeptieren will.

Die folgenden Zitate stammen aus dem Exemplar „Leben des Galilei“ Suhrkamp BasisBibliothe. 1.Erste Auflage 1998.

Das Stück „Leben des Galilei“ thematisiert vier potentielle Haltungen gegenüber der Wahrheit. Sie spiegeln wohl auch die intensiven inneren Kämpfe wider, die dieses Thema beim Schrifsteller Brecht provoziert hat.

Erste Haltung

Die Wahrheit muss enthüllt werden, koste es was es wolle.

Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit und nicht der Autorität behauptet Brecht mit einem an Bacon angelehnten Satz. Man muss die Wahrheit ausposaunen. Es ist nötig zu verbreiten, was man weiß, weil die Wahrheit sich nicht selbst bekannt machen kann. Wer die Wahrheit nicht kennt, ist einfach dumm, aber wer die Wahrheit kennt und trotzdem leugnet, ist ein Krimineller.

S.80) Der kleine Mönch: Und Sie meinen nicht, daß die Wahrheit, wenn es Wahrheit ist, sich durchsetzen wird, auch ohne uns?

Galilei: (...) Und das Schlimmste: was ich weiß, muß ich weitersagen. Wie ein Liebender, wie ein Betrunker, wie ein Verräter. Es ist ganz ein Laster und führt ins Unglück.

S.83) Galilei: (...) Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.

Zweite Haltung

Wichtiger als die Wahrheit kund zu tun ist es, das eigenes Leben zu retten.

Die Geschichte nimmt eine 180-Grad-Wendung als Galileo verkündet, dass er wegen seiner wissenschaftlichen Entdeckungen nicht über einem Holzfeuer geröstet werden möchte. Er erscheint plötzlich als negativer Held.

86) Andrea: (...) Ganz Europa fragt nach ihrer Meinung. Ihr Ansehen ist so gewachsen, dass Sie nicht schweigen können.

Galilei: Rom hat mein Ansehen wachsen lassen, weil ich geschiweigen habe.

Federzoni: Aber jetzt können Sie sich Ihr Schweigen nicht mehr leisten.

Galilei: Ich kann es mir auch nicht leisten, dass man mich über mich einem Holzfeuer röstet wie einen Schinken.

Im Anhang der Buchausgabe (S.142), die ich benutzt habe, setzt sich Brecht mit „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ auseinander.

„Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muß den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wir; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe, das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List, sie unter diesen zu verbreiten."

Es ist gewiss nicht einfach, mit so vielen Schwierigkeiten auf einmal zurecht zu kommen. Das Übliche ist, dass die Lüge sich ausbreitet und die Wahrheit versteckt werden muss, um das Leben ihrer Träger nicht in Gefahr zu bringen.

Die Idee, dass die Wahrheit verschleiert werden muss, um das eigene Leben zu schützen, findet man auch in „Der gute Mensch von Sezuan“ – ein Theaterstück, das Brecht zwischen 1938 und 1940 schrieb. Hier muss sich die Protagonistin Shen-Te hinter der Identität einer anderen Person, Shui Ta, verstecken. Hier liegt die große Frage des Theaterstücks: Ist diese Haltung legitim?

Einerseits: Galileio sollte sein tragisches und heroischen Schicksal akzeptieren. Er sollte die Wahrheit verkünden, auch wenn das seinen Tot bedeutet. Aber Brecht schildert Galileo als einen Mann, der das gute Essen und das gute Leben schätzt. Ein Physiker ja, aber eben auch ein Mensch. Man bewundert in der Regel diejenigen, die für ihre Ideen zu sterben bereit sind. Aber ist das vernunftig? Braucht die Wahrheit tatsächlich Opfer, um zu überleben? Und wenn das so ist, wieviele mussen fallen, bis sich die Wahrheit durchsetzt?

115) Andrea: (schreit Galilei an: Weinschlauch! Schneckenfresser! hast du deine geliebte Haut gerettet?

116) Galilei: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.

Galileo ist zum Feigling geworden. Er macht sich mehr Sorgen um seinen Bauch als um die Ideale, die er am Anfang des Theaterstücks proklamiert hat.

Dritte Haltung

Die Wahrheit muss im Interesse eines höheren Ziels verheimlicht werden.

Was bringt es, für eine Idee zu sterben, wenn am Leben zu bleiben es überhaupt erst ermöglicht, mehr zu erreichen ? Wozu nützt der Ruhm eines heroischen Todes, wenn man nicht weiter ein Held sein kann?

Tolstoi behauptet in seiner Erzählung „Kreuzersonate“, dass der Tod nur verständlich ist, wenn das Individuum keine Vision, keine Ziele hat. Wenn das Leben einem Zweck dient, dann hat der Tod keinen Sinn mehr. Es sieht so aus, als würde Brecht genauso denken: Galileo will sein Leben schützen, um seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen zu können.

Die Identifikation von Lebenserhaltung und passivem Widerstand gegenüber der Tyrannei ist durch einen bestimmten Moment gekennzeichnet: Den Umstand nämlich, dass das Leben eines Menschen einem Ziel dient, zu dessen Erreichen das Überleben nötig ist. Auf diese Weise rehabilitiert Brecht seinen bis dahin moralisch übel zugerichteten Helden. Galileo versteckt als guter Italiener sein Ass im Ärmel: die „Discursi“, d.h die Wahrheit, die er in seinem Zimmer in einer Erdkugel geheim gehalten hat. Die Gefühlsregung seines Schulers Andrea kennt keine Grenze. Plötzlich versteht er, dass die wissenschaftliche Arbeit Galileos den Schutz des Lebens erforderte. Andrea bewundert die Schläue seines Lehrers.

124) Andrea: Sie versteckten die Wahrheit vor dem Feind. Auch auf dem Felde der Ethik waren Sie uns um Jahrhunderte voraus.

Vierte Haltung

In lebensgefährlichen Momenten kann niemandem der Vorwurf gemacht werden, ein Feigling zu sein.

Galileo gesteht seinem Schüler, dass er seine wissenschaftlichen Ergebnisse nicht wegen eines höheren Interesses verleugnet habe. Die Leugnung seiner eigenen Theorien sei einfach und allein der Angst vor Folter und körperlichen Leiden geschuldet gewesen.

So kommt Galileo zur zweiten Haltung unserer Betrachtung zurück. Er gibt zu, dass er in der Tat aus dem Wunsch gehandelt habe, sein eigenes Leben zu retten. Trotzdem kann ein solches Verhalten nicht als tadelswert beurteilt werden. In Situationen, in denen unsere eigene Existenz auf dem Spiel steht, geht es nur um das Eine: die eigene Haut zu retten, und zwar nicht wegen eines Ideales, sondern des Lebens selbst.
In Brechts gesamter Arbeit ist das Leben das erste Axiom. Das Leben als erstes Prinzip gilt vor allen anderen Prinzipien und das schließt auch das Prinzip der Wahrheit ein. Ein toter Mensch – ganz gleich aus welchen Gründen - ist einfach eine Leiche und riecht wie jede Leiche riecht: nämlich schlecht. Das nackte Leben ist das einzige, was der Mensch besitzt, um weiterhin Mensch sein zu können. Deshalb darf niemand Galileo sein Verhalten vorhalten; statt eines Feiglings ist er ein vernünftiger Mensch.

124) Andrea: Mit dem Mann auf der Straße sagten wir: Er wird sterben, aber er wird nie widerrufen. Sie kamen zurück: Ich habe widerrufen, aber ich werde leben. Ihre Hände sind befleckt, sagten wir. Sie sagen: Besser befleckt als leer.

Galilei: Besser befleckt als leer. Klingt realistisch. Kling nach mir. Neue Wissenschaft, neue Ethik.

125) Galilei: Ich habe widerrufen, weil ich den körperlichen Schmerz fürchtete.

Andreas: So war es kein Plan?

Galilei: Es war keiner.
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KOMMENTAR

Die Verteidigung der Wahrheit pendelt durch verschiedenen Stadien. Dennoch ist Brecht kein Relativist. Es geht nicht darum, das die Wahrheit relativ ist. Relativ ist die Art und Weise wie die Wahrheit – und das schließt auch die wissenschaftliche Wahrheit ein - enthüllt werden kann.

Relativ in Bezug worauf könnten wir fragen. In Bezug auf die Umstände wäre Brechts Antwort. Der Schrifsteller bestreitet keinesfalls die Existenz der Wahrheit. Was für ihn ein Problem bedeutet, ist ihre Äußerung und die Konsequenzen, die sie verursachen könnte. Auch bei diesem Thema – wie bei vielen anderen auch - ist Brecht ein Aufklarer.

Die Wahrheit glänzt nicht immer für sich selbst und kann nicht immer aufgedeckt werden. Die Verschleierung, die Maskierung, ist Teil der Vernunft in einem doppelten Sinn. Erstens in dem Sinn, dass die Wahrheit versteckt ist, und Mut und Wille nötig sind, um sie zu finden. Zweitens in dem Sinn, dass die Wahrheit nicht immer schutzlos in die Welt gesetzt sein darf; vor allem, wenn dabei unser eigenes Leben auf dem Spiel steht.

Das Leben erscheint im Werk von Brecht als das grundlegende Element der Existenz.

Seine Bewahrung bedeutet das höchste Ziel jedes Lebenswesens; aber nicht als Zweck, um ein höheres Ideal zu erreichen, sondern um des Lebens selbst Willen. Der Wunsch, am Leben zu bleiben, ist gerechtfertigt, weil der Überlebensinstinkt zur tierischen Natur des Menschens gehört. Galileos Haltung, einfach das eigene Leben zu retten, hat daher nichts Unmoralisches.

Es ist wichtig zu bemerken, dass Brecht sich auf die Rettung des eigenen Lebens und auf die Verhüllung der selbst entdeckten objektiven wissenschaftlichen Wahrheit bezieht. Das schließt andere Komponenten wie Verrat an einem Freunde oder an einer Gruppe aus. Durch die Figur des Galileio will Brecht uns das Dilemma zwischen dem eigenen Leben und den eigenen Idealen zeigen. Die Gruppe hat hier keine Bedeutung und kann auch keinen Einfluss ausüben. Wir stehen vor einem Konflikt des Individuums selbst mit sich selbst, das mit anderen und ihren Wahrheiten überhaupt nichts zu tun hat.  In diesem einsamen Kampf besitzt die Gruppe keine Relevanz. Mehr noch: In anderen Theaterstücken von Brecht wie „Der gute Mensch von Sezuan“ oder „Arturo Ui“ ist es die Gruppe, der das Individuum widerstehen muß, wenn es am Leben bleiben will. Der Mensch ist immer allein. Deshalb ist die entscheidende Frage nicht, ob er bereit ist für jemand anderen zu sterben, sondern ob er sein eigenes Leben für seine eigene Ideen, für die Wahrheit, zu opfern akzeptieren würde.

Nach Brecht bedeutet der Verzicht auf die eigenen Ideen unter Zwang der herreschenden Macht keineswegs die Verbundenheit mit dieser Macht. Er zeigt nur die Machtlosigkeit des einzelnen Individuums vor dieser Macht. Brechts Überzeugung, das Leben auch dann zu behalten, wenn dies Selbstverleugnung bedeutet, findet sich auch in den „Geschichten von Herrn Keuner“. Eine der Geschichten erzählt wie der Tyrann einen Mann fragt, ob er bereit sei, ihm zu dienen. Der Mann antwortet nicht, fängt zu tun an, was von ihm verlangt wird. Als nach einigen Jahren der Tyrann daran stirbt, dass er zu viel gegessen und wenig gearbeitet hat, antwortet der Diener: „Nein.“

Für Brecht sind Tyrannei und Tod ein und dieselbe Sache. Per definitionen kann nur das Leben den Tod besiegen. Am Leben zu bleiben ist eine effektivere Methode als die Gewalt, um der tyrannische Macht widerstehen. Es gibt Momente, in denen offener Widerstand nur Eitelkeit und Sturheit enthält. Brecht wird nicht der einzige sein, der so denkt. Während Brecht im „Leben des Galilei“ den Fall Giordano Brunos beklagt, wirft Stefan Zweig in „Castellio gegen Calvin“ Servet seinen törichten Eifer vor. Der spanische Wissenschaftler habe sich leichtsinnig mit Calvin auseinander gesetzt und weigerte sich von seinen theologischen Doktrinen – die im Gegensatz zu wissenschaftlichen Entdeckungen unverizierbar sind - abzuweichen. Erich Mª Remarque deutet in seinem Roman „Der Funke Leben“ darauf hin, dass viele von denen, die aktiv gegen die Tyrannei kämpfen, nur den Zusammenbruch ihres eigenes Geistes erreichen.

Neben der radikalen Verteidigung des Lebens und der Identifikation von Tyrannei und Tod beklagt Brecht in diesem Theaterstück – wie in anderen auch -, dass die Justiz ihre Urteile nach den politischen Kriterien der herrschenden Macht statt nach den Prinzipien der Gerechtigkeit fälle.

Brecht ist überzeugt: Wenn schon das Verlangen nach einer heroischen Haltung im Fall einer unmmitelbar Todesgefahr keinen Sinn ergibt, dann noch viel weniger, wenn dieser Tod ein sinnloser Tod ist, weil er auf ein Todesurteil eines Gerichtshofs zurück zu führen ist, dessen „Legitimation“ aus Niedertracht und Gewalt stammt.

Dies war auch das Argument des Aristoteles als er aus Athen fliehen musste. „Ich werde nicht erlauben, dass die Stadt von Athen zum zweiten Male ein Verbrechen gegen die Philosophie begeht“, so seine Antwort in klarer Anspielung auf Sokrates. Dagegen ist Oscar Wilde Jahrhunderte später in England geblieben statt nach Frankreich zu fliehen, wozu ihm seine Freunde rieten. Oscar Wildes Entscheidung sollte sich schließlich katastrophal für ihn erweisen.

Letztlich zeigen alle diese Fälle, dass das Individuum als solches hilflos gegenüber der Tyrannei ist. Seine Kraft genügt nicht, um den Tyrannen zu überwältigen.

Vielleicht kann man die Siege erreichen, wenn sich die Individuen im Widerstand gegen die Tyrannei zusammen tun?

Zu diesem Punkt war Brechts Haltung immer etwas unklar. Es ist wahr, dass in seinem politischen Werk, die soziale Gruppe eine wichtigere Bedeutung als das Individuum einnimmt. Aber auch dann nur, weil der Mensch in Berücksichtigung der Bedeutung des Kampfes und der Not der Lage seinen eigenen Tod freiwillig akzeptiert.

Das Leben aufzugeben, bleibt immer eine autonome Entscheidung, die man nur nach gewaltigen inneren Konflikte zu treffen bereit sein kann.

Was Brecht betrifft, so wurde er bis zu seinem Tod als Symbol des sozialistischen Deutschland angesehen. Die Wahrheit aber ist, dass er seit seiner Ankunft dort nur fremde Theaterstücke adaptiert hat statt neue eigene zu schreiben.

Bis zur nächsten Woche!

Isabel Viñado-Gascón.

 

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