Mittwoch, 25. Juni 2014

3. „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley - Huxley und Virginia Woolf. Die Neuankömmlinge. Nichts Neues in Sicht… vorerst

Im Roman von Aldous Huxley „Point Counter Point“ (1928) Vintage Classics, Random House 2004, können Sie die Textpassagen finden, die ich hier zitiert habe.


Die Neuankömmlinge (Aufsteiger, homo novus) in der besseren Gesellschaft kommen aus niedrigeren sozialen Schichten. Sie sind intelligent und stehen für politische Positionen ein, die die Gleichbehandlung fordern. Ihre Beziehung mit den elitären Kreisen ist kompliziert und nicht  frei von Paradoxien. Einerseits bewundern die Neuankömmlinge das Axiom „ laissez faire, laissez passer“, das die Entscheidungen ihrer wohlsituierten Gastgeber leitet. Anderseits ist ihnen bewusst, dass dieses Axiom auch das frivole und oberflächliche Verhalten einer privilegierten sozialen Klasse bestimmt. Eine sozial Klasse, die in ihrem Elfenbeinturm eingeschlossen ist, gleichgültig gegenüber den Problemen der Arbeiterklasse. Bei den Neuankömmlingen treten die politischen Ideale von Gleichheit und Gerechtigkeit  mit dem Neid auf die Schönheit und den Glanz der Mitglieder der besseren Gesellschaft zusammen auf.

Beide Gruppen - die bessere Gesellschaft und die Neuankömmlinge - teilen jedoch Gemeinsamkeiten:

1.       Sie lehnen beide puritanische Einstellungen ab. Die Gründe dafür sind aber verschieden. Was für die eine der letzte zu brechende Damm gegen die Freiheit ist, bedeutet für die anderen die Verkörperung der Macht der herrschenden Kreise und Ausdruck der Doppelmoral.
Aber auf jeden Fall streben sie alle – jeder auf seine Art und Weise-  nach dem Komfort und Unterhaltungsmöglichkeiten, die die neuen technologischen Entdeckungen im Alltag bringen und –  wie Illidge treffend sagt- eben nicht kostenlos sind.

2.       Deshalb sind sie sich auch über die Bedeutsamkeit des Geldes einig.

„Point Counter Point“  Pg.76.
Illidge shrugged his shoulders. ‘Parties, music, science –alternative entertainments for the leisured. You pay your money and you take your choice. The essential is to have the money to pay.’ He laughed disagreeably.

Für den Neuankömmling Illidge wie für die gut situierte Virginia Woolf ist es unentbehrlich, Geld zu haben. Woolf wird sogar behaupten, dass wenn sie zwischen dem Frauenwahlrecht und einer Rente von fünfhundert Pfund zu entscheiden hätte, sie zweifellos (sofort) die Rente von fünfhundert Pfund nehmen würde („Ein eigenes Zimmer“). Beide Gruppen sind der Überzeugung, dass zwar das Geld die Freiheit ermöglicht, aber zugleich auch Korruption und Dekadenz impliziert. Wie Illidge beobachtet: Das liegt in der Natur des Geldes.
„Point Counter Point“  Pg. 69
‚Money breeds a kind of gangrened insensitiviness.‘

Den extrem Reichen ist die Bedeutsamkeit des Geldes auch nicht fremd. Sie sind für ihre Knauserigkeit bekannt. Rampion heiratet Mary. Er sagt ihr, dass er nicht von dem Geld ihres vermögenden Vaters leben will. Mary lacht und tröstet ihn: ihr Vater sei gegen die ungleiche Ehe. Es bestehe „keine Gefahr“, dass er ihre prekäre Existenz finanziere; vor allem, da sie -  Mary - diese Situation freiwillig gewählt habe.
„Point Counter Point“  Pg.142
‘Not that they’ll be very anxious to give me anything’ she added with a laugh. She was right. Her father’s horror at the misalliance was as profound as she had expected.’

3.       Beide Gruppen stimmen auch darin überein, die Freiheit und individuelle Unabhängigkeit als Privileg zu betrachten. Die elitären Kreise wie die Arbeiterklasse wissen, dass nur einige wenigen imstande sind, solche Rechte zu genießen. Es ist wahr, dass Mary ihren Mann Rampion ermuntert, seine sichere Stelle als Lehrer aufzugeben, damit er sich auf die Malerei konzentrieren kann. Aber wie Huxley zeigt weiß Mary nicht, was es bedeutet, unter Geldnot zu leben.

„Point Counter Point“ Pg.141
‚But why should you be a pedagogue, when you can write and draw? You can live on your wits.’
‘But can I? At least pedagogy ‘safe’
‘What do you want to be safe for?’ she asked, almost contemptuously.
Rampion laughed. “You wouldn’t ask if you’d had to live on a weekly wage, subject to a week’s notice. Nothing like money for promoting courage and self-confiance.’

Hier enden aber bereits die Gemeinsamkeiten zwischen den gut situierten Klassen und der Arbeiterklasse. Die privilegierten Klassen können nicht verstehen, dass die materielle Not einerseits dazu zwingt, Arbeiten und Bedingungen zu akzeptieren, die nicht immer mit den eigenen Talenten und  Berufswünschen übereinstimmen, und anderseits, sich an die Menschen ihrer Umgebung anpassen zu müssen. Das ist genau, was der Kommunist Illidge – die Figur, die Huxley als Neuankömmling in seinem Roman einführt – meint, wenn er Walter seine Liebe zur Privatheit vorwirft. Die Reichen, sagt Illidge, müssen keine Beziehungen mit den Nachbarn unterhalten, weil sie die bezahlte Hilfe ihres Personals haben. Die Armen dagegen haben kein Geld, um notwendige Hilfe bezahlen zu können. Sie müssen sich daher gegenseitig helfen. Deshalb ist es unentbehrlich für die Arme, gute Beziehungen zu den Nachbarn zu bewahren.

„Point Counter Point“ Pg. 70
‚But you rich‘ the other went on‚ you have no read neighbours. You never perform a neighbourly action or expect your neighbours to do you a kindness in return. It’s unnecessary: You can pay people to look after you (…) No, you’re generally not even aware of your neighbours. You live at a distance from them. Each of you is boxed up in his own secret house. (…) Privacy’s a great luxury. (…) In a poor street misfortune can’t be hidden. Life’s too public. People have their neighbourly feeling kept in constant training.’

Für die privilegierten Kreise birgt eine solche Anpassung an den Nächsten eine schrecklichen Gefahr: Die Steigerung der Tendenz zur Vermassung und Beinflussbarkeit. Ihrer Meinung nach verhindert dies die Urteilskraft, die immer frei und unabhängig sein soll. Trotzdem insistiert Illidge weiter, dass die Freiheit Geld kostet. Nur derjenige, der Geld hat, kann frei sein.
„Point Counter Point“ Pg.78
‚Money to pay,‘  he repeated. That’s the essential.’
Die wirtschaftliche Erklärung der Welt, die Individuen wie Illidge für alle Aspekte der Existenz anbieten – gleichviel, ob es sich um ein politisches, moralisches oder künstlerisches Thema handelt -  nervt letztlich die Mitglieder der besseren Gesellschaft. Sie vergleichen Illidges Reden mit religiöser Litanei: langweilig und bedeutungslos für ihr Leben.

„Point Counter Point“ Pg.70
‚Illidge went on like a denouncing prophet.’

Huxley lässt durchblicken, dass Illidges Bitterkeit eher seinen eigenen Neid reflektiert als ein ehrliches Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Deshalb stören Illidge am meisten nicht die Charakterfehler der Reichen, sondern ihre Tugenden. Diese sind nach Illidges Meinung Produkt ihrer wirtschaftlichen Sicherheit. Die Reichen müssen sich noch nicht einmal Gedanken machen über die Entwicklung ihrer Extravaganzen, weil ihre Bankkonten sie sogar aus dem Irrenhaus retten würden.

„Point Counter Point“ Pg.76
Illidge resented the virtues of the rich much more than their vices. Gluttony, sloth, sensuality and all the less comely products of leisure and an independent income, could be forgiven, precisely because they were discreditable. But disinterestedness, spirituality, incorruptibility, refinement or feeling and exquisiteness of taste –there were commonly regarded as qualities to be admired; that was why he so specially disliked them. For these virtues, according to Illidge, was as fatality the product of wealth as were chronic guzzling and breakfast al eleven. (…) ‘Why can’t they be frank and say outright what they’re all the time implying –that the root of all their virtue is a five per cent gilt-edgeg security?’

“Point Counter Point” Pg.77
‘If the Old Man wasn’t the descendant of monastery-robbers’ he would say to the praisers or admirers, ‘he’d be in the workhouse or the loony asylum.’

Aus der Sicht der Mitglieder der privilegierten Gesellschaft verhindert diese negative Einstellung, dass  Illidge die guten Momente des Lebens genießen kann. Trotz dieser Unfähigkeit will Illidge weiterhin in der Wärme der elitären Klassen bleiben. Damit weist Huxley auf Illidges Widersprüche hin, die zwischen seinen Ambitionen, seine Worten und seinen Handlungen bestehen.  Spandrell wird Illidges Inkonsistenz ans Licht bringen. Er erzählt, dass Illidge seine Mutter unterstützt, die Erziehung seines kleinen Bruders bezahlt und fünfzig Pfund seiner Schwester als Hochzeitsgeschenk gegeben hat.  Lucy versteht nicht, was daran komisch ist. Spandrells Antwort ist nichts, wenn Illidge ein bürgerliches Verhalten verteidigen würde. Die Loyalität gegenüber seiner Familie beweist ein absolut bürgerliches Verhalten. Wenn Illidge seinen politischen Ideen wirklich treu wäre, würde er keine Unterscheidung zwischen seiner Mutter und dem Rest der Frauen machen. Mehr noch: In einer nach seinen Ideen organisierten Gesellschaft, würde er wegen der Arthritis seiner Mutter sogar Euthanasie ihr praktiziert werden.

„Point Counter Point“ Pg.202
‘I can give you examples of his practical inconsistencias. I discovered not long ago, quite accidentally, that Illidge has the most touching sense of family loyalty.’

Die Figur des Neuankömmlings, die Huxley in die geschlossene, wohlhabende und adlige englische Welt einführt ist der Kommunist Illidge. Bei Virginia Woolf sind die Feministen und die gebildeten und radikalen christlichen Frauen die Neuankömmlinge.

Was beide Schriftsteller in ihren Romanen zeigen ist, dass solche Figuren nicht imstande sind, die Mitglieder der vermögenden Kreise zu erschüttern, noch nicht einmal aufzuregen. Eigentlich halten sie sie für bedeutungslos: ohne Sinn für die Kunst und die Individualität.

Tatsächlich wird Illidges Freund Spandrell, das „enfant terrible“ der guten Gesellschaft, derjenige, der den Führer der totalitären Partei „Die Freien Engländer“ ermordet. Mit dem Unterschied, dass er mit seiner Tat keinem Parteibefehl folgt. Viel weniger noch Illidges politischen Einfluss. Er bringt den Führer Webley um, weil er seiner eigenen Überzeugung gehorcht. Spandrell ist gegen den Totalitarismus ganz egal ob die elitären Kreise oder die Arbeitergruppen ihn auslösen.  Er ist ziemlich sicher, dass Webleys Suggestionskraft viele Leute überreden könnte, ihn zu wählen. Das hätte katastrophale Konsequenzen für die Freiheit in England. Spandrells Tat beansprucht die individuelle Verantwortung als Gegensatz zur Partei der Massen und zur Massengesellschaft, die die Individuen von ihrer eigenen Verantwortung und damit von ihrer eigenen Urteilskraft zu „entlasten“ versuchen.

Schlussfolgerung

Huxley und Woolf betrachten die Neuankömmlinge, die ihre privilegierten und exklusiven Kreise erreichen, mit Geringschätzung. Sie verleihen ihnen finstere und neidische Persönlichkeiten. Solche Charaktere können sich nicht von ihren Minderwertigkeitskomplexen lösen, die die individualistische und unbekümmerte bessere Gesellschaft in ihnen auslösen. Diese Leichtigkeit der wohlhabenden Gruppen bedeutet nicht, dass sie die Realität der sozialen Ungerechtigkeit ignorieren. Sie suchen auch nicht ihre eigenen Müßiggang und ihr Desinteresse für alle Themen, die nicht direkt mit ihnen zu tun haben, zu verstecken. Weder Huxley noch Woolf ertragen die Heuchelei derjenigen, die einerseits die elitären Kreisen erreichen – sogar sich in sie integrieren – wollen und anderseits sich moralisch überlegener als die Wohlhabenden ansehen, weil sie selbst aus niedrigeren und ärmeren sozialen Schichten stammen.

Aus der Lektüre ihrer Romanen kann man schlussfolgern, dass Huxley wie Woolf folgende Ansichten verteidigen:

1.       Die Moral ist nicht umkehrt proportional zur Kaufkraft.
2.       Die Moral ist nicht Besitz irgendeiner politischen Gruppe oder sozialen Schicht. Ihre Natur hat zuallererst einen individuellen Charakter.
3.       Es ist demagogisch, moralische Prämissen zu nutzen, ja ausnutzen, um den selbstverständlichen Wunsch, reich zu werden und bequem zu leben, zu kaschieren.

Beide Schriftsteller – Huxley und Woolf - kritisieren ihre eigene privilegierte soziale Klasse, ohne aber von ihr abschwören zu wollen. Besonders Huxley kritisiert den Zynismus ihrer Mitglieder wie ihre Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen Themen. Jedoch besteht kein Zweifel daran, dass Huxley und Woolf stolz auf die künstlerische, wissenschaftliche und intellektuelle Atmosphäre ihrer Kreise sind. Sie sind auch nicht ganz sicher, dass dies in der Arbeiterklasse existieren könnte. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens weil die Arbeite arbeiten müssen, um sich zu ernähren. Deshalb verfügen sie nicht über die notwendige Freiheit, um sich Aktivitäten zu widmen, die keine oder nur geringe Einkünfte bringen. Zweitens folgt aus der wirtschaftliche Prekarietät die Mitglieder der Arbeiterklasse Abhängigkeit statt individueller Autonomie. Weder Huxley noch Woolf ertragen die engen Geister, die nur aus dem Fenster der Vorurteile und deren Perspektive den anderen imponieren wollen.

Bis hierhin die Parallelen zwischen beiden Autoren. Während Woolf sich in den Elfenbeinturm der Künstler zurück zieht, bleibt Huxley an der Grenzlinie, die seine Welt von den anderen Welten trennt. Der originelle Titel des Buches: „Point Counter Point“ zeigt ganz deutlich Huxleys Absicht. Nämlich: Seine eigenen Gesellschaftskreise der Komplexität und Wechselhaftigkeit  der Wirklichkeit seiner Zeit entgegen zu setzen. Die großen Probleme, die Huxley sein Leben lang beschäftigt werden, werden hauptsächlich mit der Industrialisierung und dem Fortschritt zu tun haben.

Der Elfenbeinturm fühlt noch nicht die Schläge der Geschichte. Seine Bewohner sind zu beschäftigt mit sich selbst. Aber die Trompeten lassen hören, dass sie sich unaufhaltsam nähert. Illidge ist der erste. Er trägt das Banner der neuen Winden der Geschichte. Hinter ihm kommen noch viele andere Bannerträger.

„Point Counter Point“ Pg.77
‚But being unpleasant to and about the rich, besides a pleasure, was also, in Illidge’s eyes, a sacred duty. He owed it to his class, to society at large, to the future, to the cause of justice.’

Treu zu seinem Leben, treu zu seiner sozial Gruppe. Huxley wird bis zu seinem Tod stets behaupten, was Nietzsche schon in seiner Zeit sagte, nämlich: Nicht die Menschen, sondern der Mensch verändert die Geschichte. Nicht die Masse, sondern das Individuum baut sie.

Nächstes Mal wird erscheinen:

4.       „Huxley und Nietzsche. Aufklärung: Das schwierige Gleichgewicht zwischen Vernunft und Gefühl.“ „Kontrapunkt des Lebens“ (1928) Huxley.

Dieser Blog und der letzte: „Huxley und die dunkle Kräfte der Romantik.  Die Ära des Nationalismus und der Mystik.“ sind extrem lang und kompliziert. Man könnte sagen, dass sie kleine Essays sind. Ihre Ausarbeitung auf Spanisch war damals schwierig genug. Sie können sich vorstellen, wieviel Mühe die deutsche Übersetzung eine Amateurin kostet. Der Juli wird sehr wahrscheinlich blogfrei.

Isabel Viñado-Gascón






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