Mittwoch, 15. August 2012

DIE TATARENWÜSTE (1940), Dino Buzzati


Warum bleibt ein junger Mann sein ganzes Leben lang auf einer Festung, die sich auf einem Berg oberhalb einer Wüste erhebt?  Welchen Grund haben die Anderen, um ebenfalls dort zu bleiben? Wie kann man sich erklären, dass „die Anderen“ trotz physischer Nähe immer nur „die Anderen“ sind? Warum herrscht zwischen ihnen Mißtrauen und Schweigen, wenn sie doch zusammen leben und sich jeden Tag treffen, um Karten zu spielen?

Fragen und noch mehr Fragen ohne Antwort.

Die Geschichte fängt damit an, dass Drogo – ein junger Mann, der gerade seine militarische Ausbildung  als Offizier beendet hat - seinen ersten Posten auf einer abgelegenen Grenzfestung bekommt.

Bei seiner Ankunft stellt er fest, dass es keine Anzeichen für einen – weder gegenwärtigen noch zukunftigen - Angriff gibt. Dennoch ist die Disziplin außerordentlich streng.

Zunächst wundert er sich darüber. Was aber am Anfang Verwunderung ist, verwandelt sich mit der Zeit in Gewohnheit.

So vergehen fünfundzwanzig Jahre. Drogo bleibt in der Isolation der Festung. Seine einzige Begleitung sind die Sterne, der Wind und nur einmal ein anderer Soldat, der – wie Brecht sagen würde -  mit den Wolken verschwindet.

Der so sehr herbei gesehnte Angriff ereignet sich erst am Ende des Buches, gerade als der inzwischen alt gewordene Drogo in seinem Bett liegt. Er versucht aufzustehen und an dem Kampf teilzunehmen. Der Kommandant Simeoni jedoch befiehlt seine Versetzung in die Stadt. Diese Entscheidung folgt aus Notwendigkeit und nicht aus Mitleid: Er braucht mehr Platz für die anrückende Verstärkung.

Drogo, der sein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet hat, muss gerade dann die Festung verlassen. Die Festung, in der sein Leben stehen geblieben ist.

Er und seine Begleiter halten sich auf dem Weg in die Stadt in einem Gasthaus auf, um die Nacht dort zu verbringen. In der Stille seines Zimmers erkennt Drogo, dass sein Moment gekommen ist. Er muss in einen Kampf, der nur seiner ist: der des Todes.

So endet das Buch.

Die Erzählung ist sehr gut geschrieben. Nur deshalb fährt der Leser mit seiner Lektüre fort. Denn der Leser hat schon von Anfang an intuitiv erkannt, dass Buzzatis Buch keinen Platz für Abenteuer oder spektakuläre Momente lassen wird.

Was diese Geschichte zeigt, ist vor allem die Entfremdung, die Distanzierung des Ich von der Welt, die ihn umringt. Es geht nicht darum, dass Drogo die Welt nicht versteht. Sie interessiert ihn einfach nicht. Diese Entfremdung hat mehrere Aspekte.

Erstens hat zwischen Drogo und der Festung nie eine emotionale Beziehung existiert.  

Gewiss, es war nicht  Drogos Entscheidung, auf die Festung versetzt zu werden. Er will von dort weg. Dennoch: Als er von seinem Vorgesetzten die Genehmigung erhält, die Festung zu verlassen, beschließt er, dort zu bleiben. Das alles zeigt das Bild eines ruhigen und sehr anpassungsfähigen Mannes, dessen einziger Besitz darin besteht, sich bloß „im Leben zu befinden“.

Außerdem bietet die Festung Drogo keine Entwicklungsmöglichkeiten: weder als Mensch noch als Soldat. Trotzdem kann man die Festung nicht als Gefängnis betrachten. Die Festung  kann man als Ort des „Nicht-sein“ bezeichnen,  während das Gefängnis ein Ort des „Anti-sein“ ist. Das Gefängnis ist in  der Tat ein „Anti-sein“, weil es die Freiheit verbietet und sich damit gegen die Möglichkeiten des Seins richtet.  Im Unterschied zur Festung:  Dorthin ist man auf Grund seiner militärischen Ausbildung gegangen und deshalb ist dieses „Nicht- sein“ eine eigene Wahl gewesen. Denn der Soldatenberuf bringt Disziplin und Gehorsamheit mit sich. Das hat nichts mit Freiheitsverbot zu tun. Dieses „Nicht-sein“  ist vielmehr eine Konsequenz der „Berufung“.

Er „befindet sich“ nur auf der Festung, aber er „ist“ nicht dort. Und dieses „nicht sein“ darf man nicht als Widerspruch oder Gegensatz, sondern als absolute Leere verstehen.

Zweitens gibt es zwischen ihm und den Anderen keine Beziehung.

Nicht nur, dass keine Freundschaft existiert, die Kommunikation selbst fehlt. Die einzigen Gespräche der Soldaten drehen sich um bloße Nichtigkeiten.

Was die Beziehungen zu den Bewohnern der nächsten Stadt betrifft, so trennt sie ein unüberwindlicher Abgrund. Drogo hätte sich mit einem Mädchen verloben können. Aber es ist ihm unmöglich, zur Welt draußen eine Brücke zu bauen – nicht wegen der Außenwelt, sondern seinetwegen.

Mit anderen Worten: Drogo hat keine Beziehung zu irgend einem Ort, keine Beziehung zu einer bestimmten Person. Die Kommunikationslosigkeit breitet sich schließlich bis zu ihm selbst aus. Man findet bei Drogo keine individuelle Reflexion. Die Stille umfasst seine Seele, ohne dass sie Platz für etwas anderes lässt.

Eines nachts hat Drogo einen Traum: Als Kind muss man sorgenlos einfach den Weg folgen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Aber man weiß nicht, welches das Ziel ist. Man sucht, ohne das Gesuchte zu kennen. Das Ziel ist unbekannt und rückt immer weiter in die Ferne. Die fixe Zielorientierung führt dazu, dass der Weg an Bedeutung verliert. Das Ziel haben wir nicht selber gesetzt. Hin und wieder hat man den Eindruck, dass man schon zum Ziel gekommen ist und dort bleiben könnte. Aber wenn man hört, dass es weiter auf dem Weg besser sein soll, geht man weiter. Nur das Ende des Weges zählt, das zugleich das Ende der Suche bedeutet; obwohl man nicht weiß, was man sucht. Die Zeit führt diese Suche ad absurdum. Plötzlich erwacht das Bewusstsein der Sinnlosigkeit dieses Gehens.  Es reift die Erkenntnis: Der Weg und nicht das Ziel ist das Wichtigste. Aber es ist zu spät um umzukehren. Was dann bleibt sind Einsamkeit und Alter.

Drogo hinterfragt die Bedeutung seines Traumes nicht.

Mein Eindruck ist, dass Buzzati mit der Schilderung des Traums seine eigene Vision des Lebens zu geben versucht. Nach Buzzatis Meinung vergeudet man das Leben auf der Suche nach einen unbekannten Etwas, ohne zu wissen und zu bemerken, dass das Wichtigste das Leben selbst ist. Trotzdem schafft es der Autor Buzzati nicht, dass sich sein Lebensbild im Buch bei seinem Protagonisten Drogo durchsetzt. Drogos Wesensart geht indes in eine ganz andere Richtung. Anders als der Schriffsteller Buzzati ist Drogo nicht auf der Suche nach einer unbekannten, aber idealen Welt der Fülle. Drogo verfolgt nicht einmal seinen Traum, einen heroischen Moment zu erleben. Das Leben ist für Drogo eher eine Erwartung als ein gerades Gehen auf ein unbekanntes Ziel. Er steht dort, wo er ist, und wartet. Er wartet darauf, dass sein großer Moment zu ihm kommt. Seine zwei Versuche zu gehen scheitern an seiner Unentschlossheit aufzubrechen. Er erwartet, dass das große Ereignis, der Angriff aus der Tatarenwüste, einfach zu ihm kommt. Mit der Zeit wird diese Erwartung aber zur bloßen Gewohnheit werden.

Drogo beschreibt seine Situation nur äußerlich, ohne eine moralische oder politische Wertung vorzunehmen. Es fehlen die Fragen, der Wunsch zu wissen, was es hinter den Erscheinungen gibt  (oder geben könnte).  Daher fehlt bei Drogo jeder Wunsch, etwas zu unternehmen.

Die Hauptfigur Drogo erreicht so eine ganz andere Dimension als es Buzzatis existenzialistischer Perspektive in der Traumschilderung entspräche. Der Traum zeigt Buzzatis Lebenskonzept, nicht Drogos. Drogos Wesen überschreitet das pessimistische existenzielle Konzept Buzzatis: Drogos Wesensart  ist völlig apathisch und amorph.

Die Einfall der Feinde bedeutet ein Ereignis. Drogo fühlte sich nie von Ereignissen angezogen. Er bewies das schon als er sich weigerte, an einer militärischen Aufklärungsexpedition teilzunehmen. Dagegen entscheidet sich sein Kamarad Angustina, sich dafür zu melden. Angustina hat wie Drogo einen ruhigen Charakter. Aber dort endet die Ähnlichkeit. Angustina leidet. Er hat Gründe dafür, etwas zu tun oder nicht zu tun. Er hat im Unterschied zu Drogo einen Willen. Als er Angustina in der Schlacht fällt, sinkt Drogo noch tiefer als zuvor in sein „Sich-zu-befinden“. Gerade dort liegt die Radikalität Drogos: in seinem reinen und inhaltsgeleerten „Sich-zu-befinden“.

Das Buch endet mit dem einzigen Krieg, an dem Drogo teilnehmen konnte. In der Tat: Die Schlacht, die Drogo führt, ist die zwischen „Sich-am-Leben-zu-finden“ gegen „Sich-nicht-am-Leben-zu-finden“. Trotzdem muss man sagen, dass der Ausgang der Schlacht ihm keine Sorgen bereitet: Auch wenn es sich um den Übergang zwischen Leben und Tod handelt, denn das „Sich-zu-befinden“ bleibt unberührt.

Ist Drogo eine kafkasche Figur oder eher ein Mann ohne Eigenschaften? Ist er Opfer der Umstände oder seiner moralischen Kraftlosigkeit? Schleppt er sich selbst zum Abgrund oder wird er geschleppt?

Buzatti zeigt in seinem Buch Drogos Gleichgültigkeit, die Sinnlosigkeit eines Lebens, in dem es keine Reflexion gibt. Wie kann es einen Sinn geben, wenn noch nicht einmal die Kommunikation existiert? Es gibt weder den Wunsch noch die Absicht, die Realität zu ändern. Man nimmt das Leben wie das Leben ist und gerade das macht die Kommunikation unmöglich. Sich Gedanken über das Leben zu machen, gründet die Basis jeder Unterhaltung, sogar in der Einsamkeit. Jede Unterhaltung ermöglicht die Überschreitung bloßer Tatsachen. Nur durch sie können die Tatsachen bewertet und transzendiert werden. Sie ist auch der Anlass, um sie umzubilden. Nur in der Unterhaltung können die verschiedenen Aspekte der Realität erscheinen.

Untätigkeit und Gesprächlosigkeit gehen Hand in Hand. Das hindert die Reflexion, die eine Verhaltensänderung bringen könnte. Deshalb ist Drogos Einsamkeit keine kreative sondern eine langweilige und leere Einsamkeit, die eigentlich nur auf den Tod und nicht auf den Angriff aus der Tatarenwüste wartet.

In diesen Sinn ist es logisch, dass andere –die Tätigen - die Früchte des Erfolgs ernten. Sie sind diejenigen, die aus sich selbst herraus kommen. Wie Simeoni, der mit seinem Fernglas kleine schwarze Punkte am Horizont beobachtet und die Vorbereitung für den Kampf befiehlt.

Simeoni beobachtet die Punkte. Das Entscheidende aber ist, dass er nicht bei deren bloßer Beobachtung bleibt. Er versucht sie zu verstehen, ihnen einen Sinn zu geben. Er reflektiert darüber und am Ende dieses Prozesses trifft er eine Entscheidung.

Buzzatis Buch ist ein Manifest gegen alle, die das Leben als absurd empfinden, um in die Apathie fliehen zu können.

Er stellt die Charaktere Drogos und Simeonis gegenüber um zu zeigen, dass weder der Ort noch die Welt draußen die Elemente sind, die unser Leben bestimmen. Nur wir selbst können das tun. Dafür ist Aktivität notwendig, die aber nicht ohne Neugierde entstehen kann.

Drogo empfindet keine Neugierde für die Welt. Er ist faul, untätig und passiv. Zuerst beklagt er die Umstände, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Später machen die Gewohnheit und Sitten der Festung den Verlauf der Zeit vergessen.

Ausreden für’s Nichtstun gibt es immer. Heutzutage mehr denn je. Fernseher und Computer sind fast uneinnehmbare Festungen geworden. Die Informationsfülle bedeutet dabei nicht ein Zuwachs an Reflexion, sondern ein Zuwachs an purer Datenkenntnis. Genauso wie für alle anderen Soldaten außer Simeoni die kleinen Punkte am Horizont eben nur kleine Punkte bedeuten.

Das Absurde ist nicht von Anfang an (a priori) Teil unseres Lebens. Wir machen es absurd, wenn wir nicht die richtigen Elemente wie Neugierde, Reflexion und schließlich Aktivität ins Spiel bringen.

Die kritische Vernunft und die Bewertung der Tatsachen sind unentbehrliche Werkzeuge, um die Realität ändern zu können.

Es braucht den „Mut zum Sein“ und den „Mut zum Werden“. Ich denke hier an Kant. In einer Welt, die durch Informationen beherrscht ist, wird das bekannte „Sapere Aude“ – mit seinem Ausruf zur kritischen Urteilskraft und Reflexion - die wichtigste Unterstützung, um unsere Entscheidungen treffen zu können.

Aber es ist auch noch etwas anderes nötig: Radikalität. Der Mut muss radikal sein. Damit meine ich nicht politische Stellungnahmen, sondern eher moralische.  Diese Radikalität zeigt sich in drei Aspekten. Sie ist erstens wichtig, um unser eigenes existentielles Konzept bestimmen zu können und zweitens uns kritisch mit externer Steuerung auseinander zu setzen sowie drittens uns gegen den moralischen Relativismus zu stellen. Letzterer hat weniger mit Toleranz als mit Moden zu tun.

So gesehen kann man die Interrelation zwischen kritischer Urteilskraft und Aktion nicht verleugnen. Man muss sich trauen, radikal zu sein. Diese Radikalität wiederum verlangt, sich auf die Suche nach Kenntnissen zu machen. Es handelt sich um eine innerliche Radikalität, die für einen selbst und nicht für die anderen gilt, gerade weil jeder verschiedene Interesse hat und sich daher von verschiedene Themen und Fragen angezogen fühlt.

Das Zentrale in Buzattis Buch liegt in seinem Aufruf zur Aktivität. Der Schrifsteller zeigt anhand des Anti-Helden Drogo ex negativo wie Inaktivität und geistige Trägheit ein Leben in ein absurdes Leben verwandeln. Nicht weil das Leben keinen Sinn in sich hat, sondern weil Drogo nicht fähig ist, einen Sinn zu geben.

Man könnte das Leben mit den Zutaten für einen Kuchen vergleichen. Zunächst sind die Zutaten getrennt und verstreut. Sie sind da, aber sie sind kein Kuchen. Um den Kuchen zu backen, braucht man den Willen, ihn zu backen und den Eifer, die Aktion zu beenden. Es ist unentbehrlich, sich auf das Abentuer seiner Fabrikation einzulassen. Das verlangt Information darüber, wie man einen Kuchen anfertigt, die Entscheidung für eine bestimmte Kuchenart sowie den unzerbrechlichen und radikalen Willen, ihn zu backen.

Machen wir uns daran, den Kuchen des Lebens zu backen. Ich weiß nicht wie gut uns gelingen wird, aber auf jeden Fall werden wir mehr Spaß als Drogo haben.

Bis nächste Woche!
Isabel Viñado Gascón

 

 






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