Donnerstag, 22. März 2012

„STILLER“ (1954) von Max Frisch


Stiller, die Hauptfigur, verneint heftig die Identität, die die Anderen ihm zuschreiben. „Ich bin nicht Stiller!“ ist der Schrei, mit dem das Buch anfängt.

Seine Hartnäckigkeit führt zu Verwirrung. Der Leser kann nicht feststellen, ob die Anderen sich irren oder Stiller lügt. Wenn man die Wahrheit erfährt, ist sie bedeutungslos.

Die Frage, die Frisch stellt, ist die Frage nach der individuellen Identität und der Möglichkeit der schöpferischen Kraft. Worin besteht unsere Identität ? Bildet der Name unsere Identität? Haben wir nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Freiheit ein anderer Mensch zu werden? Könnten wir mit der Veränderung des Namens auch eine andere Persönlichkeit entwickeln? Würde die Gesellschaft so etwas erlauben?

Das Buch atmet Pessimismus: „Wer aber so viel Geld beisammen hat, dass er sich wirklich die freie Meinung leisten könnte, ist ohnehin mit den herrschenden Verhältnissen meistens einverstanden“ (...) „Wahrscheinlich kann es überhaupt keine Freiheit geben, (...) es gibt nur Unterschiede in der Unfreiheit“.

So gesehen, begrenzt jede Art des Seins unsere Freiheit. Deshalb wird die Frage nach der Identität zur Frage nach der Wahl der Art der Fesseln, die wir an uns anlegen.

Die einzige mögliche Lösung liegt darin, ein Ziel zu haben. „Um lebendig zu sein, braucht man ja auch ein Ziel in die Zukunft hinaus“, schreibt Frisch.

Das können wir allerdings nie erreichen, wenn wir untätig bleiben. Man muss aktiv sein. Man muss wagen, aufzubauen,  zu erneuern, zu spielen, jedoch nicht mit den abstrakten Möglichkeiten, die nicht existieren, sondern mit unseren eigenen vorhandenen Mitteln. Er ist nicht der einzige, der das behauptet. Bertold Brecht schreibt in seinen Schriften zum Theater (Aus Notizbüchern, 1920): „Ich weiß nicht, warum die Jüngsten so krampfhaft an ihrem Material herumneuern und mit der Reform bei der Sprache anfangen, die doch recht eigentlich das Unbedachteste, Leichtwiegendste, Schwebendste sein soll und deren ganzer  Reiz verblaßt, wenn sie absichtlich wirkt und willkürlich, ja schon da, wo sie überhaupt Objekt scheint. Das sind Bemühungen eines kleinen Geschlechts. Wozu neue Steine wählen, wo die Architektur so unendlich viel Platz für neue Ideen hat!“

 Max Frisch nutzt damit die Gelegenheit, die geistige Bequemlichkeit seiner Landsleute aus der Schweiz zu kritisieren. Ihr Reichtum ist die Ursache ihres Konformismus und er schläfert Fantasie und Dynamismus ein.

Trotz allem enthält seine Kritik nicht den Schmerz und Sarkasmus, den die Kritik von Thomas Bernhard an den Österreichern trägt. Die Kritik von Max Frisch ist vielmehr eine stille, gelassene Kritik, die an der Oberfläche bleibt.

Da die Erfahrung zeigt, dass nur reiche Leute größzugig sein können, und dass nur die Wohlhabenden neue Projekte ins Werk setzen können, wäre es möglich zu schliessen, dass die Kritik von Max Frisch nur demagogisch ist.

Solche Schlussfolgerung wäre falsch. Er denkt weder an die Milliardäre, noch an die intellektuellen Genies. Wer ihn beunruhigt, ist der Mensch aus der Mittelklasse.

Seine Sorge ist, dass der Wohlstand der Schweiz ein Hindernis für ihre Bürger sein kann, wenn es darum geht, Neugierde zu entwickeln.

Aus meiner Sicht ist eine solche Befürchtung ein bischen naiv. Mindestens seit der Geschichte der Circe und den Schweinen aus der „Odysee“ wissen wir, dass nur einige wenige zum „Mensch-sein“ bereit sind. Es kostet einfach zu viel Kraft.

 Bis zur nächste Woche!
Isabel Viñado Gascón

 


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