Dieses Buch ist eher
eine längere Erzählung als ein Roman.
Joseph Roth schrieb sie kurz vor seinem Tod. Er starb am 27. Mai 1939.
Seine Erzählung wurde posthum veröffentlicht.
Etwas mehr als fünfzig
Seiten genügen und der Leser erlebt die Rothsche Welt als seine eigene. Solche
Intensität steckt in dem Buch. Der Leser schließt das Buch mit dem selben
Gefühl wie ein Reisender, der nach einen langen Reise durch exotische Länder
nach Hause zurück kehrt. Auch wenn er wieder zu Hause ist, ist sein Geist doch
immer noch den gerade erlebten Emotionen verhaftet. Manchmal ist der Geist
langsamer als der Körper, weil dieser dort bleiben will, wo die Eindrücke am
stärksten waren.
Die Geschichte beginnt
an einem späten Nachmittag im Spätfrühling
des Jahres 1934. Ein Unbekannter bietet dem Obdachlosen Andreas Kartak zweihundert
Franken an. Andreas ist ein Alkoholiker, der seine Nächte unter einer Brücke verbringt. Er ist aus
dem polnischen Schlesien nach Frankreich gekommen. Der geheimnisvolle Wohltäter
weist Andreas an: Wenn er sich verpflichtet fühle das Geld zurück zu zahlen, solle er dies
in der Kirche „Ste. Marie de
Batignolles“ tun. Der Fremde erklärt, dass er ein Anhänger der Heiligen Therese
sei, deren Statue sich in der Kirche finde. Andreas gibt sein Versprechen. Auch
wenn er arm sei, so sei er doch ein Mann von Ehre.
Ab dem nächsten Tag
beginnt sich sein Leben auf überraschende
Weise zu verändern. Andreas findet eine Arbeit. Er hat eine Liebesbeziehung. Er
trifft verlorene Freunde aus seiner Kindheit wieder. Nur eines schafft er
nicht: die zweihundert Franken in der Kapelle „St. Marie de Batignols“ zurück zu geben. Jedes Mal
passiert etwas Unerwartetes, das mit seiner Alkoholsucht zu tun hat. Immer
wieder hindert ihn sein Alkohol-Problem an der Erfüllung seiner guten
Absichten.
„Die Legende vom heiligen
Trinker“ ist eine Geschichte voller kleiner Wunder. Sie erzählt von einem
Versprechen gegenüber
einem Fremden,
das eigentlich eines gegenüber
sich selbst ist. Die Geschichte erzählt von dem nie aufhörenden Wunsch, dieses
Versprechen zu erfüllen
und davon, es wieder und wieder zu brechen.
Das Buch ist ein liebenswürdiges und menschliches
Buch. Es ist eine Erzählung über
das Leben selbst. Im Leben gibt es so viele unerwartete Momente, die wie
Signale aus dem Absoluten erscheinen. Signale, die uns ermutigen, unsere
Existenz zu verändern. Signale, die einen neuen Weg vor unseren Füßen zu zeigen scheinen.
Indizien, dass wir uns verändern können, wobei dieses „Sich-verändern“ „Sich-verbessern“
bedeutet.
Wir versprechen, uns zu
ändern. Wir versprechen es uns, dem Universum, Gott. Wir versprechen, unsere
Ziele zu erreichen. Dennoch werden wir aus verschiedenen Gründen am Ende immer
wieder wiederholen: „Morgen“.
Die Erzählung ist
vielleicht auch die Erzählung der tausend Kämpfe Roths mit dem Alkohol. Wer kämpft nicht gegen seine eigenen und
individuelle Dämonen? Alkohol, Faulheit, Habgier, Missmut. Ganz gleich um
welche Dämonen es sich handelt: Jeder, der dagegen ankämpft, darf als Heiliger
gelten. Auch wenn sich die Kämpfe im Nachhinein als nutzlos entpuppen.
Die Erfolglosigkeit
entwürdigt Andreas nicht. Was aus ihm einen Heiligen macht, sind seine beständigen
Versuche, seine Ziele zu erreichen. Was ihn heiligt, ist nicht das Erreichen
des Berggipfels, sondern der Anstieg selbst. Seine Armut im Geist verhindert
die Erlangung seiner Ziele. Trotzdem hat er sich seinen Platz im Himmel
gesichert.
Andreas
ist kein lasterhafter Mensch. In seiner Seele ist nicht die geringste Absicht
zu finden, jemandem weh zu tun. Ihm fehlt nur die notwendige Kraft, seine Pläne
zu verwirklichen. Aber Gott lässt die Tür zur Heiligkeit nicht nur einen Spalt
breit für diejenigen geöffnet, die im darwinistischen Alltagskampf den Kürzeren ziehen. Selig sind
die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich (Matthäus 5.3).
Es
kann nicht genug wiederholt werden, dass Alkoholismus weder schön noch
romantisch ist. Die Trinkerei zerstört die Neuronen, die menschlichen
Beziehungen und die Familien. Die Alkoholiker aus Fleisch und Blut sind weder
die sympathischen Trinker der Romane noch die melancholischen Helden der Filme.
Sie
zerstören nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben derer, die ihnen
nahe stehen. Heutzutage hat man das Rauchen dämonisiert. Ich verstehe nicht,
warum man mit der Trinkerei dasselbe unternimmt.
Das
Erstaunliche ist, dass Alkoholiker und Alkoholikerinnen versuchen, die anderen
zu überreden, dass Alkohol nicht schädlich sei. Sie sind überzeugt, dass der
Alkohol zu Spaß und Gesellchaft dazu gehört. Man muss zugeben, dass die Selbstüberzeugung
häufig die beste Waffe ist, um anderen von etwas zu überzeugen. Nicht selten gelingt
es ihnen, diejenigen die nicht trinken als Langweiliger abzustempeln. Sie verwandeln
den Whisky und andere alkoholische Getränke in unverzichtbare Bestandteil des
Erfolgs. Das schlimmste ist, dass sie - auch wenn es schwierig ist, das einzugestehen
ist - Recht haben. Ein Beispiel sind die
Deutschen, die sich nach ihrer Vertreibung aus Kamerun 1916 in Zaragoza niederließen.
In die Kirche zu gehen, war nicht das
erste, um mit der katholischen spanischen Gesellschaft in Kontakt zu kommen.
Zuerst haben sie die teuersten Nachtlokalen besucht. Solche Orte waren für die Wohlhabenden
und Einflussreichen reserviert. Dort knüpften
die Deutschen die wesentlichen Beziehungen
und Kontakte, die sie für ihre Geschäfte benötigten. Zu diesem anekdotischen Kapitel der Geschichte
empfehle ich die interessante Lektüre des Buches „Soldados en el Jardín de la Paz“ („Soldaten im Garten des
Friedens“) von Sergio del Molino.
Es
sieht so aus, als ob der Alkohol den oberen Sphäre der Gesellschaft nur Gewinne
anbiete und sich die schädlichen Konsequenzen nur in den unteren Klassen
beobachten ließen.
Vielleicht
liegt hier der Grund dafür,
dass mehr als ein gebildeter und veranwortungsbewußter Mensch Opfer des
Alkohols in seiner Studentenzeit – oder sogar früher - wurde. Sie dachten – und wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht -,
dass über den Alkohol geknüpfte Beziehungen Karrieren
helfen. Andere sehen im Alkolhol auch Elemente zur Genialität: Weil einige große
Männer – wie Roth - Alkoholiker waren, wollen sie unbedingt glauben, dass Alkohol
genial macht.
Auch
Bertold Brecht besingt in seiner ersten Schaffensepoche seinen Abstieg in die
Unterwelt und zum Alkohol. Später jedoch wird er eine radikale Wendung vornehmen.
Ihm sind die Schäden, die der Alkohol in der Gesellschaft verursacht, nicht
unbemerkt geblieben. Bertold Brecht war überzeugt,
dass die Konsequenzen des Alkohols in der Arbeiterklasse wegen der Prekarietät
ihrer materiallen Ressourcen besonders verheerend sind. Die didaktische Absicht
des Theaterstucks „Herr Puntila und seine Knecht Matti“ aus dem Jahr 1940 kann
man nicht übersehen. Seine Hauptfigur – der
kapitalistische Puntila - ist ein „halber“ Mensch, der nur unten der Wirkung
des Alkohols ein „richtiger“ Mann sein kann. Seine Knecht Matti braucht keinen
Alkohol, um ein richtiger Mann zu sein.
Die
wachsende Zahl der Mädchen und Jungen, die diese Probleme darf niemanden
gleichgültig lassen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ ist so zynisch wie
nutzlos. Ich möchte wissen, was damit gemeint ist. Man darf der Jugend die
Trinkerei nicht beibringen. Man muss der Jugend beinringen, „nicht zu trinken“.
Der
Führerschein, den sie
bestehen mussen ist nicht der Führerschein
der Trinkerei, sondern der Führerschein
des Lebens. Deshalb geht es darum, der Jugend beizubringen, nicht gegen die Verkehrsregeln
des Lebens zu verstoßen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ erinnert mich an
Unsitten des 19. Jahrhunderts, als würdige
bürgerliche Väter ihre Söhne
in Bordelle mit genommen haben, damit sie Sex „lernen“. Von den zahlreichen
psychologischen und physischen Schäden, die eine solche „Lehre“ verursacht hat,
erzählt Tolstoi in seiner 1889 geschriebenen Erzählung „Die Kreutzersonate“.
Man
muss auch beibringen, einige Dingen nicht zu tun. Ich kenne niemanden mit
gesundem Verstand, der seinen Kindern das Stehlen beibringt, außer wenn er sie
als Verbrecher ausbilden möchte. Ich glaube nicht, dass das Spaßniveau von der Anzahl
der getrunkenen Cocktails abhängt.
Eines
ist auf jeden Fall wichtig: die Schönheit des Glases. Wenn das Gefäß aus fein
geschliffenem Glas ist, wen kümmert es, dass darin nur Wasser ist? Haben sie den
Film „The Purple Rose of Cairo“ von
Woody Allen gesehen? Das Wichtigste in einer Filmvorstellung ist nicht die
Authentizität, sondern der Effekt. Im Ernst! Ich verstehe nicht, warum die
Abstinenzler immer die hässlichen Gläser bekommen!
Es
täte mir leid, wenn einige von Ihnen einen guten Rat mit einer Moralpredigt verwechseln
würden. Das ist nicht
meine Absicht.
Das
Leben ist eine Wegstrecke, an deren Ende der Tod auf uns wartet. „Die Legende
vom heiligen Trinker.“ endet mit einem Gebet: „Gebe Gott uns allen, uns
Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!
Dieser
Wunsch hat sich für
Roth nicht erfüllt. Roth starb im Deliriums tremens. Er war Opfer einer
Lungenentzündung, die ihm der Alkoholismus zugefügt hatte.
Bis
zur nächsten Woche
Isabel Viñado
Gascón
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