Montag, 17. Dezember 2012

DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER (1939) Joseph Roth


Dieses Buch ist eher eine längere Erzählung als ein Roman.  Joseph Roth schrieb sie kurz vor seinem Tod. Er starb am 27. Mai 1939. Seine Erzählung wurde posthum veröffentlicht.

Etwas mehr als fünfzig Seiten genügen und der Leser erlebt die Rothsche Welt als seine eigene. Solche Intensität steckt in dem Buch. Der Leser schließt das Buch mit dem selben Gefühl wie ein Reisender, der nach einen langen Reise durch exotische Länder nach Hause zurück kehrt. Auch wenn er wieder zu Hause ist, ist sein Geist doch immer noch den gerade erlebten Emotionen verhaftet. Manchmal ist der Geist langsamer als der Körper, weil dieser dort bleiben will, wo die Eindrücke am stärksten waren.

Die Geschichte beginnt an einem späten Nachmittag im Spätfrühling des Jahres 1934. Ein Unbekannter bietet dem Obdachlosen Andreas Kartak zweihundert Franken an. Andreas ist ein Alkoholiker, der seine Nächte unter einer Brücke verbringt. Er ist aus dem polnischen Schlesien nach Frankreich gekommen. Der geheimnisvolle Wohltäter weist Andreas an: Wenn er sich verpflichtet fühle das Geld zurück zu zahlen, solle er dies in der Kirche  „Ste. Marie de Batignolles“ tun. Der Fremde erklärt, dass er ein Anhänger der Heiligen Therese sei, deren Statue sich in der Kirche finde. Andreas gibt sein Versprechen. Auch wenn er arm sei, so sei er doch ein Mann von Ehre.

Ab dem nächsten Tag beginnt sich sein Leben auf überraschende Weise zu verändern. Andreas findet eine Arbeit. Er hat eine Liebesbeziehung. Er trifft verlorene Freunde aus seiner Kindheit wieder. Nur eines schafft er nicht: die zweihundert Franken in der Kapelle „St. Marie de Batignols“ zurück zu geben. Jedes Mal passiert etwas Unerwartetes, das mit seiner Alkoholsucht zu tun hat. Immer wieder hindert ihn sein Alkohol-Problem an der Erfüllung seiner guten Absichten.

„Die Legende vom heiligen Trinker“ ist eine Geschichte voller kleiner Wunder. Sie erzählt von einem Versprechen gegenüber einem Fremden, das eigentlich eines gegenüber sich selbst ist. Die Geschichte erzählt von dem nie aufhörenden Wunsch, dieses Versprechen zu erfüllen und davon, es wieder und wieder zu brechen.

Das Buch ist ein liebenswürdiges und menschliches Buch. Es ist eine Erzählung über das Leben selbst. Im Leben gibt es so viele unerwartete Momente, die wie Signale aus dem Absoluten erscheinen. Signale, die uns ermutigen, unsere Existenz zu verändern. Signale, die einen neuen Weg vor unseren Füßen zu zeigen scheinen. Indizien, dass wir uns verändern können, wobei dieses „Sich-verändern“ „Sich-verbessern“ bedeutet.

Wir versprechen, uns zu ändern. Wir versprechen es uns, dem Universum, Gott. Wir versprechen, unsere Ziele zu erreichen. Dennoch werden wir aus verschiedenen Gründen am Ende immer wieder wiederholen: „Morgen“.

Die Erzählung ist vielleicht auch die Erzählung der tausend Kämpfe Roths mit dem Alkohol.  Wer kämpft nicht gegen seine eigenen und individuelle Dämonen? Alkohol, Faulheit, Habgier, Missmut. Ganz gleich um welche Dämonen es sich handelt: Jeder, der dagegen ankämpft, darf als Heiliger gelten. Auch wenn sich die Kämpfe im Nachhinein als nutzlos entpuppen.

Die Erfolglosigkeit entwürdigt Andreas nicht. Was aus ihm einen Heiligen macht, sind seine beständigen Versuche, seine Ziele zu erreichen. Was ihn heiligt, ist nicht das Erreichen des Berggipfels, sondern der Anstieg selbst. Seine Armut im Geist verhindert die Erlangung seiner Ziele. Trotzdem hat er sich seinen Platz im Himmel gesichert.

Andreas ist kein lasterhafter Mensch. In seiner Seele ist nicht die geringste Absicht zu finden, jemandem weh zu tun. Ihm fehlt nur die notwendige Kraft, seine Pläne zu verwirklichen. Aber Gott lässt die Tür zur Heiligkeit nicht nur einen Spalt breit für diejenigen geöffnet, die im darwinistischen Alltagskampf den Kürzeren ziehen. Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich (Matthäus 5.3).

Es kann nicht genug wiederholt werden, dass Alkoholismus weder schön noch romantisch ist. Die Trinkerei zerstört die Neuronen, die menschlichen Beziehungen und die Familien. Die Alkoholiker aus Fleisch und Blut sind weder die sympathischen Trinker der Romane noch die melancholischen Helden der Filme.

Sie zerstören nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben derer, die ihnen nahe stehen. Heutzutage hat man das Rauchen dämonisiert. Ich verstehe nicht, warum man mit der Trinkerei dasselbe unternimmt.

Das Erstaunliche ist, dass Alkoholiker und Alkoholikerinnen versuchen, die anderen zu überreden, dass Alkohol nicht schädlich sei. Sie sind überzeugt, dass der Alkohol zu Spaß und Gesellchaft dazu gehört. Man muss zugeben, dass die Selbstüberzeugung häufig die beste Waffe ist, um anderen von etwas zu überzeugen. Nicht selten gelingt es ihnen, diejenigen die nicht trinken als Langweiliger abzustempeln. Sie verwandeln den Whisky und andere alkoholische Getränke in unverzichtbare Bestandteil des Erfolgs. Das schlimmste ist, dass sie - auch wenn es schwierig ist, das einzugestehen ist -  Recht haben. Ein Beispiel sind die Deutschen, die sich nach ihrer Vertreibung aus Kamerun 1916 in Zaragoza niederließen.  In die Kirche zu gehen, war nicht das erste, um mit der katholischen spanischen Gesellschaft in Kontakt zu kommen. Zuerst haben sie die teuersten Nachtlokalen besucht. Solche Orte waren für die Wohlhabenden und Einflussreichen reserviert. Dort knüpften die Deutschen die wesentlichen Beziehungen  und Kontakte, die sie für ihre Geschäfte benötigten.  Zu diesem anekdotischen Kapitel der Geschichte empfehle ich die interessante Lektüre des Buches „Soldados en el Jardín de la Paz“ („Soldaten im Garten des Friedens“) von Sergio del Molino.

Es sieht so aus, als ob der Alkohol den oberen Sphäre der Gesellschaft nur Gewinne anbiete und sich die schädlichen Konsequenzen nur in den unteren Klassen beobachten ließen.

Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass mehr als ein gebildeter und veranwortungsbewußter Mensch Opfer des Alkohols in seiner Studentenzeit – oder sogar früher - wurde. Sie dachten  – und wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht -, dass über den Alkohol geknüpfte Beziehungen Karrieren helfen. Andere sehen im Alkolhol auch Elemente zur Genialität: Weil einige große Männer – wie Roth - Alkoholiker waren, wollen sie unbedingt glauben, dass Alkohol genial macht.

Auch Bertold Brecht besingt in seiner ersten Schaffensepoche seinen Abstieg in die Unterwelt und zum Alkohol. Später jedoch wird er eine radikale Wendung vornehmen. Ihm sind die Schäden, die der Alkohol in der Gesellschaft verursacht, nicht unbemerkt geblieben. Bertold Brecht war überzeugt, dass die Konsequenzen des Alkohols in der Arbeiterklasse wegen der Prekarietät ihrer materiallen Ressourcen besonders verheerend sind. Die didaktische Absicht des Theaterstucks „Herr Puntila und seine Knecht Matti“ aus dem Jahr 1940 kann man nicht übersehen. Seine Hauptfigur –  der kapitalistische Puntila - ist ein „halber“ Mensch, der nur unten der Wirkung des Alkohols ein „richtiger“ Mann sein kann. Seine Knecht Matti braucht keinen Alkohol, um ein richtiger Mann zu sein.

Die wachsende Zahl der Mädchen und Jungen, die diese Probleme darf niemanden gleichgültig lassen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ ist so zynisch wie nutzlos. Ich möchte wissen, was damit gemeint ist. Man darf der Jugend die Trinkerei nicht beibringen. Man muss der Jugend beinringen, „nicht zu trinken“.

Der Führerschein, den sie bestehen mussen ist nicht der Führerschein der Trinkerei, sondern der Führerschein des Lebens. Deshalb geht es darum, der Jugend beizubringen, nicht gegen die Verkehrsregeln des Lebens zu verstoßen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ erinnert mich an Unsitten des 19. Jahrhunderts, als würdige bürgerliche Väter ihre Söhne in Bordelle mit genommen haben, damit sie Sex „lernen“. Von den zahlreichen psychologischen und physischen Schäden, die eine solche „Lehre“ verursacht hat, erzählt Tolstoi in seiner 1889 geschriebenen Erzählung „Die Kreutzersonate“.

Man muss auch beibringen, einige Dingen nicht zu tun. Ich kenne niemanden mit gesundem Verstand, der seinen Kindern das Stehlen beibringt, außer wenn er sie als Verbrecher ausbilden möchte. Ich glaube nicht, dass das Spaßniveau von der Anzahl der getrunkenen Cocktails abhängt.

Eines ist auf jeden Fall wichtig: die Schönheit des Glases. Wenn das Gefäß aus fein geschliffenem Glas ist, wen kümmert es, dass darin nur Wasser ist? Haben sie den Film „The Purple Rose of Cairo“ von Woody Allen gesehen? Das Wichtigste in einer Filmvorstellung ist nicht die Authentizität, sondern der Effekt. Im Ernst! Ich verstehe nicht, warum die Abstinenzler immer die hässlichen Gläser bekommen!

Es täte mir leid, wenn einige von Ihnen einen guten Rat mit einer Moralpredigt verwechseln würden. Das ist nicht meine Absicht.

Das Leben ist eine Wegstrecke, an deren Ende der Tod auf uns wartet. „Die Legende vom heiligen Trinker.“ endet mit einem Gebet: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!

Dieser Wunsch hat sich für Roth nicht erfüllt. Roth starb im Deliriums tremens. Er war Opfer einer Lungenentzündung, die ihm der Alkoholismus zugefügt hatte.

Bis zur nächsten Woche

Isabel Viñado Gascón

 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.