Sonntag, 21. Oktober 2012

Hotel Savoy (1924) Joseph Roth


Das Buch beginnt mit der Ankunft von Gabriel Dan im Hotel Savoy. Nach drei Jahren in einem siberischen Kriegsgefangenenlager und einer Reise, der er mit Gelegenheitsarbeiten finanziert hat, kommt er in die Stadt. Seine Absicht ist es, dort zu bleiben, bis er das nötige Geld für die Weiterreise nach Amerika zusammen hat.

Die Hotelgäste gehören allen sozialen Klassen an. Dennoch eint sie ein gemeinsames Element: die Entwurzelung.  Die meisten von ihnen möchten das Hotel verlassen. Allerdings hält sie die familiäre Atmosphäre, die sie dort erleben, und die Unmöglichkeit, einen anderen Ortzu finden, wo sie sich neiderlassen könnten, zurück.

So betrachtet ist das Hotel zugleich Heimat und Gefängnis. Für einige wird es sogar zum eigenen Sarg. Es wird nicht sehr lange dauern bis Gabriel Dan einige der Gäste kennen lernt.

Stasia: Sie arbeitet als Tänzerin in einem Varieté-Theater. Gabriel ist in sie verliebt, traut sich  aber wegen seiner Armut nicht, seine Liebe zu bekennen. Stasia geht eine Beziehung mit Gabriels Cousin Alexander ein: ein Windbeutel mit Geld.

Santschin: Er ist der Clown des Varieté-Theaters. Die Leute sagen, dass er plötzlich krank geworden sei. Der Autor Roth verrät dem Leser, dass Santschin eigentlich schon seit zehn Jahren am Sterben sei. Santschin will nicht zum Artzt gehen, weil sein Großvater und Vater auch ohne Arzt gestorben seien. Trotzdem holen seine Freunde den Hotelarzt. Nach seiner Überraschung verschreibt er dem Kranken Wein. Der Arzt erklärt, dass Santschin nicht mehr als zwei Flasche überleben werde. Wenigsten solle er glücklich sterben.

Hirsch Fisch: Er lebt im letzten Zimmer am Ende des Ganges im obersten Stockwerk des Hotels: Zimmer 864. Je ärmer der Gast, desto höher das Stockwerk, in dem er einquartiert wird, und desto weniger Leistungen bekommt er. Industrielle und Händler bezahlen das Zimmer von Hirsch. Es gibt Gerüchte, dass Hirsch selbst eines Tages auch ein reicher Händler gewesen sei. Er hat alles wegen seine Nachlässigkeit verloren. Hirsch betrachtet sich als „Träumer der Zahls der Lotterie“. Er verkauft die Nummern, die er in seinen Träumen sieht.

Abel Glanz: Er ist ein kleiner, schäbig gekleideter und unrasierter Mann. Er hat als Souffleur in einem rumänischen Theater gearbeitet. Er macht gute Geschäfte mit Devisen-Valuta.

Ignatz: Er ist der alt gewordene Liftboy des Hotels. Wenn ein Gast kein Geld hat, um seine Hotelrechnung zu bezahlen, nimmt er die Koffer des Gastes in Pfand und verschließt sie mit einem selbst erfundenen Patentschloß.

Frau Jetti Kupfer: Sie ist die „alma mater“ der Hotelbar. Sie ist Chefin einer Truppe von Mädchen, die als Nackttänzerinnen die Gäste der Hotelbar unterhalten.

Der Arzt: Er kommt täglich um fünf Uhr in die Hotellobby. Er ist ein ehemaliger Militärartzt.

Xavier Zlogotor: Er ist Magnetiseur. Er erzählt, dass er seine Kunst von Fakiren in India gelernt habe.

Zwonimir Pausin: Ein Kroate, wie Gabriel Dan ein Rückkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft. Er diente mit Gabriel Dan in einer Kompanie. Im Unterschied zu den anderen Rückkehrern ist er nicht zu Fuß, sondern mit dem Zug in der Stadt angekommen.

Zwonimir ist ein geborener Revolutionär. Er behandelt jeden wie einen alten Bekannten und macht sich über alle lustig, sodass sich niemand traut, ihm etwas zu sagen.

Bloomfield: Er ist ein Millionär, der aus Amerika zu Besuch in die Stadt kommt, aus der er als junger Mann ausgewandert war. Viele Bewohner in der Stadt hoffen Geld von ihm zu bekommen. Eigentlich will er nur den Grab seines Vaters besuchen. Bloomfield gibt Gabriel das Geld, dass er um nach Amerika weiter zu verreisen, benötigt.

Kaleguropulos: Er ist der unsichbare Besitzer des Hotels, den niemand je gesehen hat.

Andere Figuren, die nicht im Hotel leben, aber ebenfalls ein wichtige Rolle in der Handlung des Buchs spielen, sind:

Phöbus Böhlaug: Er ist Gabriels Onkel und Alexanders Vater.  Böhlaug lebt in der Stadt und ist ein reicher Geschäftsmann. Er weigert sich indes, Gabrie finanziell zu unterstützen.

Neuner: Er besitzt eine Borstenfabrik. Das einzige, was ihn interessiert, ist Geld zu verdienen. Als die Krise einbricht handelt er lieber mit Valuta  und spekuliert an der Börse als sich um die Fabrik zu kümmern.

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Die soziale Situation, die das Buch beschreibt, ist katastrophal. Die Arbeitlosigkeit ist sehr hoch. Die Arbeit in der Fabrik ist ungesund und schlecht bezahlt. Schweineborsten sind von Staub und Schmutz zu reinigen, um daraus Bürsten herzustellen. Viele Arbeiter erkranken wegen des Staubs an den Lungen und sterben mit fünzig.

In der Stadt wächst das Unbehagen. Ein Arbeiter lässt sich im Friseursalon des Hotels die Haare schneiden. Er hat aber kein Geld zu bezahlen. Die Polizei nimmt in fest und bringt ihn in Gefängnis. Die Arbeiter demonstrieren vor dem Hotel und dem Gefängnis. Plötzlich ist die Revolution da. Die Arbeiter der Bürstenfabrik streiken - und mit ihnen auch die Arbeiter aus den Textilfabriken.

Eine Typhusepidemie bricht aus. Bloomfield reist nach Amerika zurück, ohne sich verabschiedet zu haben. Die Arbeiter suchen Neuner im Hotel. Er ist zusammen mit seiner Familie geflohen. Die Soldaten kommen. Zwonimir verschwindet. Das Hotel brennt. Viele Gäste sterben, darunter Ignatz. Es stellt sich heraus: Ignatz war Kaleguropulos. Gabriel Dan und Abel Glanz wandern nach Amerika aus.

Viele Schrifsteller benötigen Hunderte von Seiten, um die Unmenschlichkeit zu beschreiben, die Europa während jener Zeit am Ausgang des ersten Weltkriegs heimgesucht hat.

Roth dagegen schafft es, mit wenigen und präzisen Worten die Einsamkeit des Menschen, die Feindlichkeit und Absurdität der Welt zu zeigen.

Das zentrale Thema bei Roth sind die menschlichen Beziehungen. Was bedeutet Blutsverwandschaft, was bedeutet Freundschaft, wann ist Großzügigkeit möglich, wenn überhaupt.

Das Panorama, dass er im Buch bezeichnet, ist ziemlich düster. Roth legt eindeutig dar, dass die Familie kaum die Zuflucht ist, die man in ihr sehen will. Das Bild der Familie als Zufluchtsort ist idealistisch, utopisch. Die familiären Beziehungen verschwinden, sobald es sich nicht um einen bloße Kaffee, sondern um tatsächliche Hilfe handelt. In diesem Sinn greift der Autor die biblische Tradition auf. Im Alten Testament existiert nicht die „große Familie“. Jede Bruder gründet seinen eigenen Stamm. Zusammenarbeit existiert auf Grund der Blutsbande, sondern wegen gemeinsamer Interessen. Das Erstgeburtsrecht  hat Esau und Jacob entzweit. Esau ist nach Edom ausgewandert. Seine Feindschaft hat sich auf seine Nackommen übertragen. Deshalb durfte Moses nicht in sein Land durchqueren, als er auf der Flug aus ägypten war.

Josefs Brüder haben ihn in eine Grube geworfen und verlassen. Seine Rettung hat er Fremden zu verdanken. Der Pharao war derjenige, der ihn reich und mächtig gemacht hat.

In Davids Haus vergewaltigt Amnson seine Schwester Tamar. Absalon bringt deswegen Amnon um und gleich darauf versucht er seinen Vater David zu entthronen.

Gabriels Onkel weigert sich, ihm finanziell zu helfen. Gabriel wird das Geld für die Reise nach Amerika von einem Fremd bekommen – Bloomfield.  Gabriel wird für seine Sekretärsdienste für Bloomfield von diesem ein „königliches Honorar“ erhalten. Der Grund dafür ist kein anderer als reine Sympathie.

Daraus könnte man folgen, dass die Freundschaft das stärkste Bündnis bildet. Aber Roth existentieller Pessimismus lässt nicht für Platz für schnelle Hoffnungen. Hilfe ist nur möglich, wenn es neben der Sympathie noch so viel Geld gibt, dass man solche Hilfe als Wohltätigkeit bezeichnen kann.

Dem selben Stamm anzugehören impliziert nicht bedingungslose Hilfe zwischen den verschiedenen Ästen. Genauso wenig wie Freundschaft und Sympathie von sich aus entstehen, wenn Menschen sich in der selben schwierigen Situation befinden.

Solidarität in schwierigen Zeiten ist unmöglich. Not und Elend eines jeden verhindern die Großzügigkeit. Auch wenn Gabriel Dan behauptet, dass er sich mit seinen Frontkameraden eng verbunden fühlt, ist das mehr das Produkt eines sentimentalen Momentes als  Ausdruck der Realität. Gleich darauf muss er zugeben, dass er nie ein Kameradschaftgefühl gehabt habe. Noch nicht einmal als sie im Krieg waren.

Altruismus ist nur möglich, wenn es genügend materielle Mittel gibt. „Die Menschen sind nicht schlecht, wenn sie viel Raum haben“, schreibt Roth. In Krisenzeiten, wie sie das Buch beschreibt, herrscht Egoismus vor. Das erklärt die Ablehnung, auf die die  Russland-Rückkehrer treffen. Die Zeitungen sehen in ihnen die Ursache aller Probleme, insbesondere als Träger der Revolution. In Wirklichkeit verschlechten die Rückehrer eine Situation, die schon per se schwierig ist. Wie wir schon kommentiert haben ist Brüderlichkeit eine Angelegenheit der Heiligen und Engel, nichts der Menschen.

Roth kritisiert das Elend, das die Industrialiesierung mit sich bringt. „Gott straft diese Stadt mit Industrie. Industrie ist die härteste Strafe Gottes“. Roth zeigt sich aber skeptisch, die Revolution als Lösung zu sehen.

Die Revolution liegt in der Luft. Ein kleiner Vorfall – der nach seinem Friseurbesuch verhaftete Arbeiter in den Friseur Salon - enzündet eine schon voraussehbare Explosion. Genutzt hat sie eigentlich nicht viel. Roth bleibt seinem Pessimismus treu und ist überzeugt, dass für einige die Revolution zu ihrer Natur gehört. Er nimmt Zwonimir als Beispiel: „Agitator, aus Liebe zur Unruhe. Er ist ein Wirrkopf, aber ehrlich, und der glaubt an seine Revolution“. Auch wenn er seine Aufrichtigkeit bewundert, wiederholt Roth seine Behauptung, dass Revolutionen an sich wertlos sind. Im Gegenteil: Sie erzeugen noch mehr Gewalt. Dem Fabrikanten Neuner gelingt es zusammen mit seiner Familie zu fliehen. Zwonimir verschwindet zwischen den Opfer, die sich auf der Straße anhäufen. Gabriel Dan hält ihn für tot. Revolutionen wie Kriege, lassen nur  Leichen auf ihrem Weg zurück.

Gabriel Dan gesteht, dass ihn Revolutionen nicht interessieren. Er gibt zu, dass er zu egoistisch ist. Die Arbeiterstreiks gehen ihn nichts an.

Meiner Meinung nach ist nicht Egoismus der Grund warum Dan weiter läuft ohne anzuhalten, um zur Lösung der sozialen Konflikte beizutragen zu versuchen. Vor allem ist es der Wunsch zu leben zusammen mit dem Ekel, den er vor  menschlichen Konflikten empfindet. Ebenso wie Remarque klagt Roth das geistige und soziale Elend an, das der Krieg in sich trägt. Der Krieg zwingt die Menschen, sich gegenseitig zu ermorden, ohne einen Grund dafür zu haben; ohne sich gekannt zu haben.

 

Gabriel Dan schwankt zwischen den Gefühlen der Solidarität und des Egoismus. „Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen.“

Die Lösung ist die radikale Freiheit: Nirgendwo hin zu gehören. Mitglied keiner Gruppe zu sein. Der Zwang abzureisen. Es gibt nur das „weiter und weiter gehen“. Roth zeigt den Schrecken angesichts einer tiefen Beziehung und gleichzeitig den Wunsch, verschiedene Lebensweisen und Personen kennenzulernen, mit denen wir nur in bestimmten Momenten und konkreten Situationen verbunden sind.

Jene, die in dem Glauben anhalten,  am Ziel angekommen zu sein, sterben. Der Tod ist absurd und erreilt alle. Das Leben ist nicht ein „Wandeln“, sondern ein „sich richten auf“.

Trotzdem liegt das Ende der Reise immer vor uns selbst. Weder die innere Natur des Menschen, noch ein göttlicher Fluch dienen hierfür als Erklärungen. Es sei denn, dass jemand irrigerweise dächte, dass Entwurzelung zu einer dieser beiden vorgenannten Kategorien – menschliche Natur oder göttlicher Fluch - gehört. In Wirklichkeit sind wir nie, wo wir uns befinden. Gerade das Bewußtsein, dass wir keine Heimat haben, zwingt uns weiter zu gehen. Es handelt sich nicht um die Entdeckung des Paradieses. Was uns treibt, weiter voran zu gehen, ist der Wunsch, dort anzukommen, wo „sein“ und „sich befinden“ übereinstimmen. Hin und Wieder erfasst uns das Bedürfnis, uns irgendwo zu etablieren. Aber das Leben, der Wunsch zu leben, drängt dazu weiter zu laufen. Die ewige Wiederkehr existiert nicht. Die ewige Wiederkehr ist unmöglich. Die Welt verändert sich unerbittlich.

Zu glauben, dass man zu einem Ausganspunkt zurück kehren kann, ist eine Chimäre. Die Orte sind nie, was sie einmal waren; die Menschen auch nicht. „Ein großes Heimweh geht von ihnen aus, die Sehnsucht vorwärtstreibt und eine verschüttete Erinnerung an Heimat”. Der Marsch geht immer nach vorne. Vielleicht nicht immer geradlinig, aber auf keinen Fall im Kreis.

Bloomfield vertraut Dan an, wo sich die richtige Heimat befindet: Der Ort, in dem unsere Verstorbenen begraben sind. Das Leben und der Tod marschieren zusammen. „Wenn mein Vater in Amerika gestorben wäre, könnte ich ganz in Amerika zu Hause sein. Mein Sohn wird ein ganzer Amerikaner sein, denn ich werde dort begraben werden. (...) Das Leben hängt so sichtbar mit dem Tod zusammen und der Lebendige mit seinen Toten. Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung“.

Jedoch ist es Roth – Roth der Pessimist – der letztlich die Heimat des Millionärs Bloomfield zerstört und ihn in geistiger Bedürftigkeit belässt. Die sozioökonomischen und politischen Umstände in der Stadt werden Bloomfield  daran hindern, das Grab seines Vaters wieder besuchen zu können. „Er wird seine Sehnsucht unterdrücken, Henry Bloomfield“. Sein Reichtum hilft hier nicht. Das Geld kann nicht alle Hindernisse überwinden. Bloomfield, der Millionär Bloomfield, ist selbst auch wurzellos und wie alle Entwurzelte dieser Erde verspürt auch er Heimweh nach einer Heimat, die er nicht hat. Ihr Fehlen bedeutet weder eine Verfluchung noch eine Befreiung. Die Entwurzelung ist die primäre Realität, die der Mensch akzeptieren muss, um überleben und vorwärts gehen zu können. Niemand weiß genau wohin. Das ist indes gleichgültig. Wichtig ist vielmehr nur immer vorwärts zu laufen. Das ersehnte Amerika deutet lediglich den Name des neuen Zieles an, nicht den einer neuen Heimat. Die Neuankömmlinge werden weiter ihre wurzellose Natur mit sich schleppen müssen; sogar hoffnungloser als früher. Wie Singer in seinem Roman „Schatten über den Hudson“ bedauert, wird es zwischen den Eltern, die nach Amerika gekommen sind und ihren Kinder, die dort geboren sind, nicht einmal die Affinität der Sprache existieren.

Einsamkeit ist das Axiom, auf  das sich die menschliche Existenz gründet. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir den Tod vermeiden.

Manchmal ist der Pessimismus das einzige, was uns rettet.

Vorausgesetzt wir sind stärker als er...

Bis zur nächsten Woche!

Isabel Viñado Gascón



 

 

 

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