Mittwoch, 29. August 2012

“EIN EIGENES ZIMMER” (1929) Virginia Woolf


Das erste Buch, das ich von Virginia Woolf gelesen habe, war „Mrs. Dalloway“, 1925 veröffentlicht. Ich muss meine Vorurteile gegen es zugeben. Ich hatte vom Bloomsbury Kreis gehört und ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Roman etwas anderes als eine literarische Exzentrizität wäre.

Was ich aber endeckte, war ein angenehmes Buch. Es zeigt die Anstrengungen einer Frau, um ihren „Garten der Lüste” zu schaffen, ohne dabei ihre täglichen Pflichten zu vernachlässigen. Sie versucht zu „sein“, ohne in ihr „Ich“ eingesperrt zu bleiben.

„Sein“ von innen nach außen; sich um die kleinen Dinge sorgfältig zu kümmern; Person werden, ohne auf die weiblichen Merkmale verzichten zu wollen. Darin besteht nach Virginias Meinung das Leben einer Frau.

Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt man die Liebe und die Freundschaft. Nur mit diesen Elementen kann sich die Persönlichkeit richtig entwickeln und blühen.

In „Mrs. Dalloway“ ist die Welt der Feministinnen als eiskalt beschrieben. Wegen ihrer manichäistischen Trennung zwischen „Mann und Frau“ kastrieren die Feministinnen jede spirituelle und intellektuelle Freiheit. Die Hauptfigur, Clarissa Dalloway, ist tief überzeugt davon, dass ihre Ansprüche ein Gefängnis für die Seele bedeuten.

Virginia Woolf wollte verhindern, dass sie beim Leser einen falschen Eindruck erwecken würde. Ihre Einstellung zum Feminismus in „Mrs. Dalloway“ war kein bloßes Argument für einen Roman. 1929 erschien ihr Text „Ein eigenes Zimmer“. Es handelte sich um einen Essay, in dem sie ihre Betrachtung über die Situation der Frau in der Gesellschaft schilderte.

In erster Linie behauptet Virginia Woolf, dass der Mann der Frau weder intellektuell noch spirituell überlegen sei.

Zwei Gründe erklären, dass traditionell das Gegenteil behauptet wurde: Zum einen war die Frau in der Regel ärmer als der Mann. Zum anderen hat die Frau nie über ein eigenes Zimmer verfügt. Deshalb - meint Virginia Woolf - haben Frauen hauptsächlich Romane geschrieben. Sie benötigen weniger Konzentration als andere literarische Genres.

Was die Armut betrifft, so beeinflusst sie Frauen und Männer in ihrer intellektuellen und geistigen Entwicklung gleichermaßen. Um dieses These zu untermauern, nimmt Virginia Woolf zwölf männliche Dichter als Beispiel. Darunter waren neun Akademiker. Das heißt sie besaßen ausreichende ökonomische Mittel, um studieren zu können. Von den anderen drei, gehörte einer zur einen wohlhabenden Familie; ein anderer verfügte über eine kleine Rente und der dritte schließlich war der ärmste von allen und ist jung gestorben.

Virginia Woolfs Schlußfolgerung ist, dass die geistige Freiheit von den materiellen Umständen ab. Die Dichtkunst hängt ihrerseits von der geistigen Freiheit ab. Und Frauen sind fast immer arm gewesen.

Dieser Kreis kann nur auf Grund der ökonomischen Unabhängigkeit der Frauen durchbrochen werden. Das eigene Zimmer symbolisiert dabei jene Unabhängigkeit.

Die ökonomische Selbständigkeit ist für Virginia Woolf extrem wichtig. Sie behauptet, dass sie vor die Entscheidung gestellt, zwischen dem Frauenwahlrecht und einer Rente von  500 Pfund Sterling zu wählen, sie sich sofort für die fünf hundert Pfund Sterling entscheiden würde.

In zweiter Linie versucht  Virginia Woolf  die Gegengesätze Begriffe „Frau“ und „Mann“ zu überwinden. Virginia Woolf führt die androgyne Figur ein. Sie definiert sie nicht ausführlich. Deshalb ist sie leider mit Missverständnissen und Ungenauigkeiten beladen. Für die einen ist sie ein irdischer Engel; für die anderen ist diese Figur ein Hybrid, eine Art Synthese zwischen Mann und Frau. Nichts davon meint Virginia Woolf.

Aus dem Buch können zwei Betrachtungen aus dem Begriff „androgyn“ ableiten werden. In einem ersten Moment bedeutet das Androgyne so viel wie „schöpferischer Geist“. Seine Natur ist genauso männlich wie weiblich. Wenn der Künstler ein Mann ist, überwiegen die männlichen Merkmale. Wenn der Künstler eine Frau ist, sind es die weiblichen, die dominieren. Das heißt, dass sich jeder Künstler unabhängig von seinem Geschlecht entwickelt kann, aber nicht auf es verzichten muss. Es ist sogar wichtig, dass im künstlerischen Schaffen jeder Künstler sein eigenes Geschlecht zu behalten weiß. Was Virginia Woolf an Jane Austen so sehr bewundert, ist der Umstand, dass sie immer als Frau geschrieben hat.

In einem zweiten Moment benutzt Woolf den Begriff des „Androgynen“, um ihn durch den Begriff „Person“ zu ersetzen. Es war vermutlich die Absicht von Virginia Woolf, die negativen Konnotationen und historischen Vorurteile, die der Begriff „Person“ mitgeschleppt hat, zu überwinden.

„Person“ war nur derjenige, der sich als Individuum entwickeln konnte. Die Frau fiel nicht  in diese Kategorie. In der Tat: Im Laufe der Geschichte, in Romanen genauso wie in wissenschaftliche Studien  hatte man den Frauen ihre Stellung als „Person“ und sogar ihre Seele bestritten.

Der schöpferische Geist ist androgyn. Er ist der Begriff, mit dem die Geschlechtsunterschiede überwunden, aber nicht aufgehoben sind. Nur durch ihm kann die Frau ihre Legitimation als Individuum erreichen. Nur durch ihn  kann sich die Frau nicht nur zum Wissen, sondern auch zum  Sein wagen.

Virginias Vorwurf an die Feministinnen ihrer Zeit ist die Ablehnung ihrer Weiblichkeit und ihr asexuelles oder männliches Auftreten.

Dieser Vorwurf spiegelt Woolfs Ängste: Das Eingeschlossensein in sich selbst; die Tatsache, dass das „Ich“ sich nur mit sich selbst beschäftigt. Die Feministinnen als Gruppe betrachtet, bilden ein kollektives „Ich“,  das unfähig ist,  aus sich selbst heraus zu kommen. Deshalb werden sie - unabhängig von jeder moralischen Bewertung - langweilig.

Die Langeweile, das Eingesperrtsein in sich selbst ist ein Hindernis für die intelektuellen Entwicklung. Sie verwandelt sich in Apathie und Inaktivität. Die „Anstrengung um aus sich heraus zu gehen“, ist die Lösung für eine solche Situation. Außerdem funktioniert sie auch wie der Motor, den jede Unternehmung braucht.

Auf jeden Fall: Virginia Woolf legt Wert darauf zu betonen, dass die Frau in diesem Prozess ihrer „Bewußtwerdung von sich selbst“ nicht als Anti-Frau auftreten soll. Der Feminismus soll ein breiteres Konzept vertreten.  Er muss sich aus den Kampf der Geschlechter befreien, weil dies das künstlerische Schaffen verhindert.

Nach Virginias Meinung erfordert der schöpferische Geist eine Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau, damit die Kunst vollkommen sein kann. Es soll eine „Hochzeit“ zwischen den  Gegensätzen geben. Der schöpferische Geist darf auch nicht ein geschlossenenes Absolutum werden. Damit die künstlerische Aktivität ehrlich und geistreich sein kann, müssen Freiheit sowie Frieden existieren.

Anscheinend haben in unsere heutigen Tagen die Ideen von Virginia Woolf über die der ersten Feministinnen triumphiert. Die aktuelle Frau partizipiert am Arbeitsmarkt,  ohne das Interesse für die Mode und die Schönheit aufzugeben. Sie hat eine enorme Dosis Unabhängigkeit gewonnen - nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in ihren Beziehungen.

Ist das wirklich so?  Haben sich die intelligenten Frauen von der Strafe befreien können, die ihnen Isaac B. Singer in seinen Romanen auferlegt hat?

Nur dem Anschein nach.

Es gibt ein Thema in Virginias Woolf Buch, mit dem sie sich nur einmal beschäftigt: Die Mutterschaft.

Wie sehr die Mutterschaft und die Kindererziehung das schöpferische Schaffen verhindert ist eine Frage, die sie nur im Vorbeigehen bespricht. Statt dessen kümmert sie sich lieber um den schöpferischen Geist und die Notwendigkeit eines eigenen Einkommens. Vielleicht, weil das Thema der Mutterschaft ein zu kompliziertes und delikates zu sein scheint.

Es ist in der Tat ein extrem schwieriges Thema.

In unseren Tagen sollte  auf die Frage nach der Mutterschaft auch die Frage nach der Vaterschaft hinzugefügt werden.

 Nächste Woche werden wir dieses Thema analisieren. Wir werden die Risiken auf uns nehmen, uns in sumpfige und treibsandige Gebiete hineinzubegeben, ohne ein Buch als Hilfe zu haben.

Vielleicht wird ein Rettungshochschreiber nötig sein?

Bis zur nächsten Woche!
Isabel Viñado Gascón

 

 

 

 

 

 

 

Donnerstag, 23. August 2012

„FEINDE, DIE GESCHICHTE EINER LIEBE“ (1973) Isaac Bashevis Singer


Der Jude Herman Broder ist ein apathischer und phlegmatischer Mann, der der Naziverfolgung dank Yadwiga, einer katholischen, polnischen Bauerin entkommen ist. Sie hat ihn bis zum Ende des Krieges auf einem Heuboden versteckt gehalten. Nach dem Krieg erfährt Herman, dass seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht worden sind.
Er heiratet Yadwiga. Sie liebt ihn. Er ist ihr nur dankbar.

Beide emigrieren nach New York. Dort findet Herman eine Geliebte: Mascha. Mascha ist eine Jüdin, die von ihrem Mann getrennt lebt, aber nicht geschieden ist.
Die Geschichte wird noch komplizierter als plötzlich Tamara, Hermans erste Frau, erscheint. Sie ist nicht gestorben. Die Kinder dagegen haben den Krieg nicht überlebt. Sie versucht, eine neue Existenz ohne Herman anzufangen. Der Schmerz als Mutter und die Einsamkeit als Frau haben sie zerstört. Wenn sie am Leben bleibt, dann nur, weil sie eine innere Kraft am Leben hält. Diese Kraft treibt sie an, weiter zu gehen.

Das Ende des Buches ist zwar unerwartet, aber doch verständlich. Die zwei Ehefrauen tun sich zusammen. Tamara eröffnet eine jiddische Buchhandlung und Yadwiga kümmert sich um den Haushalt und das Kind, das sie von Herman bekommen hat. Mascha bleibt allein. Herman macht sich aus dem Staub, um nicht entscheiden zu müssen, mit welcher Frau er bleibt und vor allem, um sich dem sexuellen Einfluß seiner Geliebte zu entziehen.

Soweit die Geschichte.

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Zwischen den Zeilen kann man auch in diesem Buch eine in Singers Werk insgesamt zentrale Idee herauslesen: Die prinzipielle Untauglichkeit des Mannes für das Leben.  Deshalb muss die Frau die Organisation des Alltäglichen übernehmen. Die einzige Leistung des Mannes ist sein Beitrag zur Fortpflanzung. Nicht alle Frauen sind allerdings gleich und nicht alle beeinflussen die männliche Existenz auf die selbe Art und Weise und mit der selben Intensität.
Aus Singers Büchern können grosso modo drei Gruppen weiblicher Charaktere heraus kristallisiert werden.

-          Die „sensuellen“ Frauen: Mascha gehört zu dieser Gruppe. Sie steht für die sinnliche Liebe und Leidenschaftlichkeit.

-          Die „materiellen“ Frauen: Frauen, die wie Yadwiga besonders für die physische Arbeit geeignet sind. Sie sind von kräftiger Konstitution und nicht sonderlich intelligent. Sie zeichnen sich durch ihre natürliche Güte und ihr Verständnis gegenüber den anderen aus. Sie personifizieren so die Opfer der Liebe wie die Kraft des Lebens und seine Kontinuität. Sie sind die fruchttragenden Bäume des Lebens.

-          Die „intellektuellen“ Frauen: Sie transzendieren die beiden anderen Gruppen. Sie verkörpern wie Tamara Frauen, die sich über den Tod stellen und ihn überwinden. Sie sind in der Regel einsame und selbstgenügsame Frauen. Sie brauchen die Männer noch nicht mal für die Fortpflanzung. Sie sind so vollkommen, dass sie nicht die Mutterschaft benötigen, um sie sich als Person zu verwirklichen. Sie sind die Halt gebenden Wurzeln der fruchttragenden Bäume des Lebens.

 

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Die „sensuelle“ Frau bedeutet das Verderben des Mannes. Wegen ihrer wollüstigen und launischen Konstitution ist sie letztlich die Feindin jeder Liebesgeschichte. Sie ist kinderlos wie die „intellektuelle“ Frau, aber im Unterschied zu jener baut sie nichts auf und zerstört alles.

Der Mann ist sich der Gefahr bewußt, die eine solche Frau darstellt. Seine Schwäche hindert ihn aber daran, sich aus den Verstrickungen ihrer tödlichen Anziehungskraft zu befreien.

Die einzigen zwei Frauentypen, denen die Männer vertrauen können, sind die „materielle“ und die „intellektuelle“ Frau. Außerdem bilden beide zusammen ein perfektes Tandem. Die erste trägt Kraft und Leben bei; die zweite stützt und erhebt letztere.

Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass Yadwiga und Tamara sich für ein gemeinsames Leben entscheiden. Die beiden anderen Hauptfiguren: Herman, der apathische Mann und Mascha, die „sensuelle“ Frau verlieren sich auf getrennten Wegen, ohne dass der Leser die Auflösung ihrer Schicksale erfährt.

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Das männliche Geschlecht erscheint in Singers Werk als durch das weibliche Geschlecht – im guten wie im schlechten Sinne - beherrscht. Der Mann ist nicht Jäger, sondern der Gejagte. Paradoxeweise überwiegt diese Idee in machistischen Gesellschaften häufiger als in Gesellschaften, in denen die Frauen eine bessere sozioökonomische Position genießen. Und all das unter dem Motto: „Armer Mann, diese Hexe hat ihn verführt“.

Ein solcher Diskurs widerspricht nicht dem Leitgedanke einer machistischen Gesellschaft. Solche Sätze bedeuten eigentlich, dass die Frauen vermeintlich charakterlos sind und nur durch Trickserei ihre Wünsche erfüllen und ihre Existenz absichern können. Für die Männer ist die eine oder die andere Frau gleichgültig.

Ein solches Modell verhindert nicht nur, dass die Frau frei ihren Mann wählen kann, sondern auch, dass sie wegen eigener persönlicher Charaktermerkale gewählt sein kann. Eine Frau trägt in sich selbst nichts Besonderes, das sie von anderen unterscheidet - außer vielleicht Externalitäten wie Schönheit und Reichtum. Alle Frauen sind gleich tugendhaft und alle sind gleichermaßen angepasst an die Gesellschaft, in der sie leben, sonst würden sie ausgestoßen.

In den traditionellen Gesellschaften erscheinen zwei Arten von Frauen: Die „Tugendhaften“ und die „Nicht-Tugendhaften“. Dabei bezieht sich „tugendhaft“ in einem ersten Moment auf das sexuelle Verhalten der Frau und nur in einem zweiten Moment auf andere moralische Werte.

Die Treue der verheirateten Frau garantiert den sozialen Frieden, weil sie die „Konkurrenz“ zwischen Jägerinnen verhindert und sie darauf verpflichtet,  sich auf ihre eigene Familie zu konzentrieren, damit diese erfolgreich wird. Auf den Mann kann sie sich wegen dessen schwacher Natur nicht verlassen. Jede andere Frau könnte ihn ja „verführen“.

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Singer zeigt aber – wie wir gesehen haben – noch einen dritten Frauentyp: die „intellektuelle“ Frau.

Auf keinen Fall ist dieser Typus neu. In der Geschichte haben sich solche Frauen eher abseits der Gesellschaft gehalten – oder sie wurden abseits gehalten. Im Mittelalter waren Repräsentantinnen dieses Typus so verschiedene Frauen wie Hexen und Nonnen.

Unsere moderne Kultur hat den intellektuellen Fortschritt und die Beteiligung der Frau in der Öffentlichkeit gefördert. Im Gegensatz zu vergangenen Jahrhunderten müssen die Frauen, die sich für die Wissenschaft und „männliche“ Berufe interessieren, weder ins Kloster eintreten noch Angst vor dem Scheiterhaufen haben.

In der machistischen Ideologie weiß der Mann nicht genau, wie er gegenüber diesem Frauentyp reagieren soll. Er fühlt sich hilflos vor diesen Frauen, die mutig genug sind, sich als Seinesgleichen zu verstehen.

Die Rache des Mannes, die Rache auch des Schrifstellers Singers, besteht darin, ihnen zu entziehen, was traditionell die Weiblichkeit charakterisiert: die Mutterschaft. Selbst Tamara, die Kinder hatte, verliert sie und bleibt kinderlos.

Die einzige Frau, die aus machisticher Sicht in Betracht kommt, um Kinder zu erzeugen ist die tugendhafte „materielle“ Frau. Dem Mann ist bewußt, dass er nur eine Fortpflanzungsrolle erfüllt. Wenigstens will er aber entscheiden, wer die Gefäße der künftigen Generationen sind. Aus seiner Sicht dürfen weder die „sensuellen“ Frauen mit ihrem moralischen Elend noch die „intellektuellen“ Frauen mit ihrer beunruhigenden überlegenen Geisteskraft Mütter werden.

Singer stellt jeder Frau frei, ihren eigenen Weg zu wählen. Die Türen sind offen. Die männliche Rache aber erscheint in dem Moment, in dem er die Mutterschaft nur der „materiellen“ Frau erlaubt. Denn sie sind die Frauen, die zum Selbstverzicht bereit sind, um  sich um andere zu kümmern.

Hat Singer recht oder müssen Feministinnen gegen seine Bücher ankämpfen? Handelt es sich um literarische Freiheit, die der Autor sich erlaubt hat, oder um Libertinage der Schreibfeder? Stellt Singer eine Wirklichkeit vor, die die Gegenwart zu verstecken versucht, und von der niemand sprechen möchte, oder ist das Buch das Produkt der uneingestandenen männlichen Ängste angesichts der verlorenen Hegemonie als Mann?

Carlota Gautier, meine beste Freundin, war fünfzehn Jahre als ihr Vater sich eines Tages mit ihr über ihre Zukunft unterhielt. Seiner Meinung nach musste Carlota zuerst grundsätzlich entscheiden, ob sie arbeiten oder heiraten wolle. „Beides zusammen geht nicht“, sagte er und fügte hinzu: „Die Unternehmen gehen bankrott und die Familien brechen auseinander.“

Auch wenn dies hier nicht der richtige Ort ist, das Leben meiner Freundin und ihres Vaters zu vertiefen, seien Sie versichert: Die Worte von Carlotas Vater hatten ihren Grund in tiefster Liebe... gestützt auf seine eigenen Überzeugungen.

Es wäre vielleicht nicht schlecht zu erfahren, was die Frauen in der Literatur über dieses Thema denken. Ich werde das in meinen nächsten Blogeinträgen vertiefen.

Bis zur nächsten Woche!

Anton von Thaler

 

 

 

Mittwoch, 15. August 2012

DIE TATARENWÜSTE (1940), Dino Buzzati


Warum bleibt ein junger Mann sein ganzes Leben lang auf einer Festung, die sich auf einem Berg oberhalb einer Wüste erhebt?  Welchen Grund haben die Anderen, um ebenfalls dort zu bleiben? Wie kann man sich erklären, dass „die Anderen“ trotz physischer Nähe immer nur „die Anderen“ sind? Warum herrscht zwischen ihnen Mißtrauen und Schweigen, wenn sie doch zusammen leben und sich jeden Tag treffen, um Karten zu spielen?

Fragen und noch mehr Fragen ohne Antwort.

Die Geschichte fängt damit an, dass Drogo – ein junger Mann, der gerade seine militarische Ausbildung  als Offizier beendet hat - seinen ersten Posten auf einer abgelegenen Grenzfestung bekommt.

Bei seiner Ankunft stellt er fest, dass es keine Anzeichen für einen – weder gegenwärtigen noch zukunftigen - Angriff gibt. Dennoch ist die Disziplin außerordentlich streng.

Zunächst wundert er sich darüber. Was aber am Anfang Verwunderung ist, verwandelt sich mit der Zeit in Gewohnheit.

So vergehen fünfundzwanzig Jahre. Drogo bleibt in der Isolation der Festung. Seine einzige Begleitung sind die Sterne, der Wind und nur einmal ein anderer Soldat, der – wie Brecht sagen würde -  mit den Wolken verschwindet.

Der so sehr herbei gesehnte Angriff ereignet sich erst am Ende des Buches, gerade als der inzwischen alt gewordene Drogo in seinem Bett liegt. Er versucht aufzustehen und an dem Kampf teilzunehmen. Der Kommandant Simeoni jedoch befiehlt seine Versetzung in die Stadt. Diese Entscheidung folgt aus Notwendigkeit und nicht aus Mitleid: Er braucht mehr Platz für die anrückende Verstärkung.

Drogo, der sein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet hat, muss gerade dann die Festung verlassen. Die Festung, in der sein Leben stehen geblieben ist.

Er und seine Begleiter halten sich auf dem Weg in die Stadt in einem Gasthaus auf, um die Nacht dort zu verbringen. In der Stille seines Zimmers erkennt Drogo, dass sein Moment gekommen ist. Er muss in einen Kampf, der nur seiner ist: der des Todes.

So endet das Buch.

Die Erzählung ist sehr gut geschrieben. Nur deshalb fährt der Leser mit seiner Lektüre fort. Denn der Leser hat schon von Anfang an intuitiv erkannt, dass Buzzatis Buch keinen Platz für Abenteuer oder spektakuläre Momente lassen wird.

Was diese Geschichte zeigt, ist vor allem die Entfremdung, die Distanzierung des Ich von der Welt, die ihn umringt. Es geht nicht darum, dass Drogo die Welt nicht versteht. Sie interessiert ihn einfach nicht. Diese Entfremdung hat mehrere Aspekte.

Erstens hat zwischen Drogo und der Festung nie eine emotionale Beziehung existiert.  

Gewiss, es war nicht  Drogos Entscheidung, auf die Festung versetzt zu werden. Er will von dort weg. Dennoch: Als er von seinem Vorgesetzten die Genehmigung erhält, die Festung zu verlassen, beschließt er, dort zu bleiben. Das alles zeigt das Bild eines ruhigen und sehr anpassungsfähigen Mannes, dessen einziger Besitz darin besteht, sich bloß „im Leben zu befinden“.

Außerdem bietet die Festung Drogo keine Entwicklungsmöglichkeiten: weder als Mensch noch als Soldat. Trotzdem kann man die Festung nicht als Gefängnis betrachten. Die Festung  kann man als Ort des „Nicht-sein“ bezeichnen,  während das Gefängnis ein Ort des „Anti-sein“ ist. Das Gefängnis ist in  der Tat ein „Anti-sein“, weil es die Freiheit verbietet und sich damit gegen die Möglichkeiten des Seins richtet.  Im Unterschied zur Festung:  Dorthin ist man auf Grund seiner militärischen Ausbildung gegangen und deshalb ist dieses „Nicht- sein“ eine eigene Wahl gewesen. Denn der Soldatenberuf bringt Disziplin und Gehorsamheit mit sich. Das hat nichts mit Freiheitsverbot zu tun. Dieses „Nicht-sein“  ist vielmehr eine Konsequenz der „Berufung“.

Er „befindet sich“ nur auf der Festung, aber er „ist“ nicht dort. Und dieses „nicht sein“ darf man nicht als Widerspruch oder Gegensatz, sondern als absolute Leere verstehen.

Zweitens gibt es zwischen ihm und den Anderen keine Beziehung.

Nicht nur, dass keine Freundschaft existiert, die Kommunikation selbst fehlt. Die einzigen Gespräche der Soldaten drehen sich um bloße Nichtigkeiten.

Was die Beziehungen zu den Bewohnern der nächsten Stadt betrifft, so trennt sie ein unüberwindlicher Abgrund. Drogo hätte sich mit einem Mädchen verloben können. Aber es ist ihm unmöglich, zur Welt draußen eine Brücke zu bauen – nicht wegen der Außenwelt, sondern seinetwegen.

Mit anderen Worten: Drogo hat keine Beziehung zu irgend einem Ort, keine Beziehung zu einer bestimmten Person. Die Kommunikationslosigkeit breitet sich schließlich bis zu ihm selbst aus. Man findet bei Drogo keine individuelle Reflexion. Die Stille umfasst seine Seele, ohne dass sie Platz für etwas anderes lässt.

Eines nachts hat Drogo einen Traum: Als Kind muss man sorgenlos einfach den Weg folgen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Aber man weiß nicht, welches das Ziel ist. Man sucht, ohne das Gesuchte zu kennen. Das Ziel ist unbekannt und rückt immer weiter in die Ferne. Die fixe Zielorientierung führt dazu, dass der Weg an Bedeutung verliert. Das Ziel haben wir nicht selber gesetzt. Hin und wieder hat man den Eindruck, dass man schon zum Ziel gekommen ist und dort bleiben könnte. Aber wenn man hört, dass es weiter auf dem Weg besser sein soll, geht man weiter. Nur das Ende des Weges zählt, das zugleich das Ende der Suche bedeutet; obwohl man nicht weiß, was man sucht. Die Zeit führt diese Suche ad absurdum. Plötzlich erwacht das Bewusstsein der Sinnlosigkeit dieses Gehens.  Es reift die Erkenntnis: Der Weg und nicht das Ziel ist das Wichtigste. Aber es ist zu spät um umzukehren. Was dann bleibt sind Einsamkeit und Alter.

Drogo hinterfragt die Bedeutung seines Traumes nicht.

Mein Eindruck ist, dass Buzzati mit der Schilderung des Traums seine eigene Vision des Lebens zu geben versucht. Nach Buzzatis Meinung vergeudet man das Leben auf der Suche nach einen unbekannten Etwas, ohne zu wissen und zu bemerken, dass das Wichtigste das Leben selbst ist. Trotzdem schafft es der Autor Buzzati nicht, dass sich sein Lebensbild im Buch bei seinem Protagonisten Drogo durchsetzt. Drogos Wesensart geht indes in eine ganz andere Richtung. Anders als der Schriffsteller Buzzati ist Drogo nicht auf der Suche nach einer unbekannten, aber idealen Welt der Fülle. Drogo verfolgt nicht einmal seinen Traum, einen heroischen Moment zu erleben. Das Leben ist für Drogo eher eine Erwartung als ein gerades Gehen auf ein unbekanntes Ziel. Er steht dort, wo er ist, und wartet. Er wartet darauf, dass sein großer Moment zu ihm kommt. Seine zwei Versuche zu gehen scheitern an seiner Unentschlossheit aufzubrechen. Er erwartet, dass das große Ereignis, der Angriff aus der Tatarenwüste, einfach zu ihm kommt. Mit der Zeit wird diese Erwartung aber zur bloßen Gewohnheit werden.

Drogo beschreibt seine Situation nur äußerlich, ohne eine moralische oder politische Wertung vorzunehmen. Es fehlen die Fragen, der Wunsch zu wissen, was es hinter den Erscheinungen gibt  (oder geben könnte).  Daher fehlt bei Drogo jeder Wunsch, etwas zu unternehmen.

Die Hauptfigur Drogo erreicht so eine ganz andere Dimension als es Buzzatis existenzialistischer Perspektive in der Traumschilderung entspräche. Der Traum zeigt Buzzatis Lebenskonzept, nicht Drogos. Drogos Wesen überschreitet das pessimistische existenzielle Konzept Buzzatis: Drogos Wesensart  ist völlig apathisch und amorph.

Die Einfall der Feinde bedeutet ein Ereignis. Drogo fühlte sich nie von Ereignissen angezogen. Er bewies das schon als er sich weigerte, an einer militärischen Aufklärungsexpedition teilzunehmen. Dagegen entscheidet sich sein Kamarad Angustina, sich dafür zu melden. Angustina hat wie Drogo einen ruhigen Charakter. Aber dort endet die Ähnlichkeit. Angustina leidet. Er hat Gründe dafür, etwas zu tun oder nicht zu tun. Er hat im Unterschied zu Drogo einen Willen. Als er Angustina in der Schlacht fällt, sinkt Drogo noch tiefer als zuvor in sein „Sich-zu-befinden“. Gerade dort liegt die Radikalität Drogos: in seinem reinen und inhaltsgeleerten „Sich-zu-befinden“.

Das Buch endet mit dem einzigen Krieg, an dem Drogo teilnehmen konnte. In der Tat: Die Schlacht, die Drogo führt, ist die zwischen „Sich-am-Leben-zu-finden“ gegen „Sich-nicht-am-Leben-zu-finden“. Trotzdem muss man sagen, dass der Ausgang der Schlacht ihm keine Sorgen bereitet: Auch wenn es sich um den Übergang zwischen Leben und Tod handelt, denn das „Sich-zu-befinden“ bleibt unberührt.

Ist Drogo eine kafkasche Figur oder eher ein Mann ohne Eigenschaften? Ist er Opfer der Umstände oder seiner moralischen Kraftlosigkeit? Schleppt er sich selbst zum Abgrund oder wird er geschleppt?

Buzatti zeigt in seinem Buch Drogos Gleichgültigkeit, die Sinnlosigkeit eines Lebens, in dem es keine Reflexion gibt. Wie kann es einen Sinn geben, wenn noch nicht einmal die Kommunikation existiert? Es gibt weder den Wunsch noch die Absicht, die Realität zu ändern. Man nimmt das Leben wie das Leben ist und gerade das macht die Kommunikation unmöglich. Sich Gedanken über das Leben zu machen, gründet die Basis jeder Unterhaltung, sogar in der Einsamkeit. Jede Unterhaltung ermöglicht die Überschreitung bloßer Tatsachen. Nur durch sie können die Tatsachen bewertet und transzendiert werden. Sie ist auch der Anlass, um sie umzubilden. Nur in der Unterhaltung können die verschiedenen Aspekte der Realität erscheinen.

Untätigkeit und Gesprächlosigkeit gehen Hand in Hand. Das hindert die Reflexion, die eine Verhaltensänderung bringen könnte. Deshalb ist Drogos Einsamkeit keine kreative sondern eine langweilige und leere Einsamkeit, die eigentlich nur auf den Tod und nicht auf den Angriff aus der Tatarenwüste wartet.

In diesen Sinn ist es logisch, dass andere –die Tätigen - die Früchte des Erfolgs ernten. Sie sind diejenigen, die aus sich selbst herraus kommen. Wie Simeoni, der mit seinem Fernglas kleine schwarze Punkte am Horizont beobachtet und die Vorbereitung für den Kampf befiehlt.

Simeoni beobachtet die Punkte. Das Entscheidende aber ist, dass er nicht bei deren bloßer Beobachtung bleibt. Er versucht sie zu verstehen, ihnen einen Sinn zu geben. Er reflektiert darüber und am Ende dieses Prozesses trifft er eine Entscheidung.

Buzzatis Buch ist ein Manifest gegen alle, die das Leben als absurd empfinden, um in die Apathie fliehen zu können.

Er stellt die Charaktere Drogos und Simeonis gegenüber um zu zeigen, dass weder der Ort noch die Welt draußen die Elemente sind, die unser Leben bestimmen. Nur wir selbst können das tun. Dafür ist Aktivität notwendig, die aber nicht ohne Neugierde entstehen kann.

Drogo empfindet keine Neugierde für die Welt. Er ist faul, untätig und passiv. Zuerst beklagt er die Umstände, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Später machen die Gewohnheit und Sitten der Festung den Verlauf der Zeit vergessen.

Ausreden für’s Nichtstun gibt es immer. Heutzutage mehr denn je. Fernseher und Computer sind fast uneinnehmbare Festungen geworden. Die Informationsfülle bedeutet dabei nicht ein Zuwachs an Reflexion, sondern ein Zuwachs an purer Datenkenntnis. Genauso wie für alle anderen Soldaten außer Simeoni die kleinen Punkte am Horizont eben nur kleine Punkte bedeuten.

Das Absurde ist nicht von Anfang an (a priori) Teil unseres Lebens. Wir machen es absurd, wenn wir nicht die richtigen Elemente wie Neugierde, Reflexion und schließlich Aktivität ins Spiel bringen.

Die kritische Vernunft und die Bewertung der Tatsachen sind unentbehrliche Werkzeuge, um die Realität ändern zu können.

Es braucht den „Mut zum Sein“ und den „Mut zum Werden“. Ich denke hier an Kant. In einer Welt, die durch Informationen beherrscht ist, wird das bekannte „Sapere Aude“ – mit seinem Ausruf zur kritischen Urteilskraft und Reflexion - die wichtigste Unterstützung, um unsere Entscheidungen treffen zu können.

Aber es ist auch noch etwas anderes nötig: Radikalität. Der Mut muss radikal sein. Damit meine ich nicht politische Stellungnahmen, sondern eher moralische.  Diese Radikalität zeigt sich in drei Aspekten. Sie ist erstens wichtig, um unser eigenes existentielles Konzept bestimmen zu können und zweitens uns kritisch mit externer Steuerung auseinander zu setzen sowie drittens uns gegen den moralischen Relativismus zu stellen. Letzterer hat weniger mit Toleranz als mit Moden zu tun.

So gesehen kann man die Interrelation zwischen kritischer Urteilskraft und Aktion nicht verleugnen. Man muss sich trauen, radikal zu sein. Diese Radikalität wiederum verlangt, sich auf die Suche nach Kenntnissen zu machen. Es handelt sich um eine innerliche Radikalität, die für einen selbst und nicht für die anderen gilt, gerade weil jeder verschiedene Interesse hat und sich daher von verschiedene Themen und Fragen angezogen fühlt.

Das Zentrale in Buzattis Buch liegt in seinem Aufruf zur Aktivität. Der Schrifsteller zeigt anhand des Anti-Helden Drogo ex negativo wie Inaktivität und geistige Trägheit ein Leben in ein absurdes Leben verwandeln. Nicht weil das Leben keinen Sinn in sich hat, sondern weil Drogo nicht fähig ist, einen Sinn zu geben.

Man könnte das Leben mit den Zutaten für einen Kuchen vergleichen. Zunächst sind die Zutaten getrennt und verstreut. Sie sind da, aber sie sind kein Kuchen. Um den Kuchen zu backen, braucht man den Willen, ihn zu backen und den Eifer, die Aktion zu beenden. Es ist unentbehrlich, sich auf das Abentuer seiner Fabrikation einzulassen. Das verlangt Information darüber, wie man einen Kuchen anfertigt, die Entscheidung für eine bestimmte Kuchenart sowie den unzerbrechlichen und radikalen Willen, ihn zu backen.

Machen wir uns daran, den Kuchen des Lebens zu backen. Ich weiß nicht wie gut uns gelingen wird, aber auf jeden Fall werden wir mehr Spaß als Drogo haben.

Bis nächste Woche!
Isabel Viñado Gascón