Mittwoch, 29. Februar 2012

Ein Kommentar über „DIE PANNE“ von Dürrenmatt


„Die Panne“ gibt es in mehreren Bearbeitungen: als Erzählung (1955), als Hörspiel (1956), als Fernsehstück (1957) und als Bühnenstück (Komödie) (1979).

Die Geschichte ist einfach: Ein Reisender namens Alfredo Traps hat eine Autopanne und muss die Nacht in dem nächsten Dorf verbringen. Dort wird er eingeladen, bei einem eigenartigen Spiel mitzumachen - dem Gerichtsspiel.

Aus diesem Grund fragen ihn ein Richter, ein Staatsanwalt und ein Anwalt - alle im Ruhestand -, ob er der Anglekagte sein möchte. Er stimmt aus Neugierde zu.

Während des Verhörs erfahren wir wie Traps Leben gewesen ist. In seiner Erzählung  suchen und finden die anderen Anhaltspunkte für eine Anklage. Ihm wird vorgeworfen, seinen früheren Chef umgebracht zu haben. Dem Angeklagten ist nicht bewusst, ein solches Verbrechen begangen zu haben. Zwar hat Traps den Posten seines Chefs übernommen und eine Affäre mit seiner Frau gehabt. Der Chef  ist aber an einer chronischen Herzkrankheit gestorben. Auch wenn es keine wirkliche kausale Verbindung zwischen diesen Umständen und dem Tod gibt, so stellt doch das Gericht eine solche Verknüpfung her.  Der Reisende Herr Traps wird zum Tod verurteilt.

Aus meiner Sicht bewertet das Gericht die unmoralische Handlung von Herr Traps als strafrechtlich relevant.  Es meint, dass Herr Traps mit seinem Verhalten, den Tod des Chefs verursacht  habe.  Es ist ihnen bewusst, dass sie damit die Tatsachen in einer Weise würdigen wie es ein normales Gericht nicht tun könnte.



Im Hörspiel sieht es so aus, als sei alles nur ein Spiel gewesen. Am nächsten Morgen reist der Angeklagte Traps sogar mit mehr Behauptungswillen als vorher weiter: „Rücksichtlos gehe ich nun vor, rücksichtlos (...)“ – sagt er.

In der Erzählung nimmt er nicht nur  dieses Urteil an, sondern stellt  sich auch gegen den Anwalt, der für seine Unschuld kämpft. Diese Reaktion ist das Produkt des eigenen Schuldgefühls des Angeklagten. Es ist wahr, dass sein Wunsch nach sozialem Aufstieg dazu geführt hat, dass sein Verhalten in vielen Momenten seines Lebens moralisch zweifelhaft war. Es ist aber nicht weniger wahr, dass er sich von seinem Mitspielern überreden lässt, sich als Verbrecher zu sehen.

In der Erzählung hängt sich Herr Traps  auf. Der Staatsanwalt ruf aus: „ Alfredo, mein guter Alfredo! Was hast du dir denn um Gottes Willen gedacht? Du verteufelst uns ja den schönsten Herrenabend!

Zu Beginn der Komödie sieht man einen Sarg auf der Bühne. Darin liegt Herr Traps. Er ist tot. Er hat sich selbst umgebracht.

Die Schauspieler unterbrechen das Theaterstück, um sich vorzustellen. Sie erzählen wie der Angeklagte ein solches Ende gefunden hat.  Sie zeigen kein Mitleid. Im Gegenteil: Sie halten Alfredo Traps für einen Angeber, der Selbstmord  begangen hat,  um seine Verbrechen auf  diese Weise  zu büßen.  Der pensionierte Richter sagt: „Der gute Alfredo. Er verteufelte mir beinahe den schönsten Herrenabend“. Damit ist die Reaktion  in der Komödie aus dem Jahr 1979 sogar noch zynischer als in der Erzählung.

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Die Handlung bei Dürrenmatt läuft ganz schnell ab. Die Zuschauer haben kaum Zeit, sich über das Absurde des Lebens Gedanken zu machen. Man bleibt einfach überrascht, verwirrt vor dem Unverständlichen. Aber es ist eine Urüberraschung. Sie fragt noch nicht. Sie schaut verwundert an, was sie vor sich hat. Das Unverständliche hat sich plötzlich vor uns gestellt.  Allerdings folgt das Unverständliche aus dem bloßen Wunsch nach Spaß einiger alter Männer im Ruhestand. Sie wollen Spaß haben, wo es sonst nur  Langeweile gibt.

Der Spaß als reiner Spaß herrscht über alles, sogar über Leben und  Tod; über Schuld und  Unschuld. Der Spaß  verlangt  nach  Totalität . Er verleugnet alles, was nicht er selber ist. Er anerkennt keine sozialen Werte. Er akzeptiert keine Grenze: Noch nicht einmal die Grenze der Justiz. Dank ihrer guten persönlichen Beziehungen haben die Mitglieder des Tribunals keine Konsequenzen zu befürchten.

Die Situation erinnert an „Der Prozess“ von Kafka und sogar an die „Antigone“ von Sophokles. Aber im Gegensatz zu diesen beiden Authoren  behandelt Dürrenmat das Problem  des Charakters der Normen weder aus der Perspektive des Absurden noch aus der Perspektive der Tragödie. Er hält die Normen ganz einfach für banal. Für Dürrenmatt sind Normen weder  metaphysische Axiome, noch haben sie irgendeine übergeordnete politische Relevanz. Sie werden nur dann relevant, wenn es jemand gibt, der sie ernst nimmt. Dürrenmatt spricht auch zwei Warnungen aus. Diejenigen, die uns moralische Vorwürfe machen, nicht besser sind als wir selber und außerdem interessieren wir sie ganz wenig. Die meisten vergessen, was  sie uns sagen, in dem Moment, wo sie es gesagt haben. Herr Traps wird so heftig als  Angeber kritisiert, weil er sich selbst und die anderen zu ernst genommen hat.

Dürrenmatt zeigt die Existenz als absurd. Auch Kafka beschäftigte sich mit diesem Thema. Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen beiden Schrifstellern.

Bei Dürrenmatt erreicht das Absurde ein noch tieferes Niveau wegen der Leichtigkeit (Frivolität), die die Charaktere zeigen. Das Verhör bei Dürrenmatts findet  nicht in kalten und leeren Räumen statt wie bei Kafka, sondern während eines reichen Abendessens mit gutem Wein.

Das philosophisch Absurde stürzt den kafkanischen Menschen in eine existenzielle Leere und in letzter Instanz in die Tragödie. Bei Dürrenmatt dagegen besitzt die Existenz von Anfang an keinen Wert, weil die Existenz nur ein Spiel ist. Die spielerische Natur des Lebens macht  eine Entleerung des Lebens oder eine wirkliche Tragödie unmöglich.



In dem Spiel wie Dürrenmatt es uns zeigt stellen wir keine Regeln auf,  aber wir akzeptieren sie. In dem Moment, wo wir diese Regeln akzeptieren, werden wir Teil des Spiels. Es ist ein Spiel, das wir nicht kontrollieren können, weil wir nicht sein Schöpfer sind. Wir bleiben in ständiger Ungewißheit. Wir können nicht einschätzen wie wichtig die Taten der anderen sind. Uns sind  die Konsequenzen unbekannt, die jede unserer Taten verursachen kann. Wir können keine richtige Strategie, keinen Plan, für unser Verhalten entwickeln. Die Sicherheit, dass es nur ein Spiel ist,  kann uns von unseren Sorgen und unserer Angst nicht befreien. Wir wissen nicht, wohin uns dieses Spiel bringt.

Kafkas Charaktere sind Opfer des Absurden. Die Charaktere von Tschechow versuchen das Absurde mit Hilfe der Arbeit zu vergessen.  Dürrenmatt weigert sich, das Absurde zu sublimieren, aber er will auch nicht um seinetwegen sterben.

Wie wir schon gesagt haben ist der Reisende im Hörspiel am Morgen nach dem Spiel am Leben. In der Komödie dagegen nicht. Die Schauspieler machen sich über den Reisenden Traps lustig. Sie sind der Meinung, dass er ein unerträglich stolzer Mann sei. Warum? Gerade weil das Leben keinen Sinn hat, soll man das Leben nicht ernst nehmen. Man darf weder das Spiel noch die Spieler ernst nehmen. Herr Traps gibt seiner eigenen Existenz eine Transzendenz, die sie nicht hat.  Das führt zur Verachtung der Anderen. Sie sind der Meinung, dass es keinen Grund für ein solches endgültiges Verhalten  (Suizid)  gibt. Der Tod hat keinen Sinn. Er bietet keine Lösung an und verhindert jede Hoffnung.

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Die Behauptung, dass das Leben keinen Sinn hat, weil es ein Spiel ist, erlaubt verschiedene  Interpretationen.

Auf der einen Seite ist sie die Wiederholung der Worte von Calderón de La Barca: „Das Leben ist ein Traum und die Träume sind Träume.“

Das Problem taucht auf, wenn das Leben kein Traum mehr, sondern ein Alptraum geworden ist; wenn nicht gewonnen zu haben, aus uns nicht nur Verlierer, sondern Versager macht. Auch wenn das Leben weiter geht, bedeutet das lange noch nicht, dass wir im Frühling statt in einem kalten und dunklen Winter aufwachen werden.

Zweitens: Einige strengen sich an, um Normen zu diktieren und andere folgen ihnen aus Trägheit. Das zeigt, dass einige mehr Macht im Spiel haben als andere. Das Schuldgefühl, das Herr Traps zum Selbstmord führt, ist nur ein Gefühl - ein rein individueller  Zustand, der nicht ansteckend ist. Am wenigsten für die, die ihm zu dieser Entscheidung gebracht haben. In der Erzählung sagt der Staatsanwalt, dass der Reisende wegen seines selbstmordes ihm den Abend verdorben hat. In der Komödie beschwert sich der Richter, weil der Reisende das beinahe geschafft hat.

Die Zyniker fühlen kein Mitleid, weil sie immer Gründe finden, um ihre Verhalten zu rechtfertigen. Schuldig sind immer die anderen - entweder als „Selberschuld“ oder als „Spielverderber.“ 



Gerade die moralischen Menschen sind die Einzigen, die ein solches Schuldgefühl empfinden und die Einzigen, denen man Schuldgefühle einreden kann. „Die Würde des Menschen verlangt keine Gnade“ wird Herr Traps in der Erzählung sagen.


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Man könnte sich fragen, welche Faktoren  dem Zyniker einen solchen Vorsprung geben und wie die Anderen seine Machtposition zerstören oder wenigsten schwächen könnten.

Die Antwort auf die erste Frage ist doppelt. Wie wir schon gesagt haben: Einige Spieler können die Regeln diktieren ohne sich selbst ihnen unterzuordnen,  weil die anderen Spieler diese Tatsache erlauben. Aber man darf die Kraft der Beziehungen nicht vergessen. „Der Justizminister ist Freund und Schüler des Richters“ schreibt man in der Komödie.

Tatsächlich haben einige Spieler von Anfang an mehr Macht im Spiel als die Anderen. Die  Entscheidung von Herrn Traps könnte sich aus dieser Perspektive erklären. Ihm ist es bewußt, dass diese Männer mehr Macht als er haben. In einer Welt ohne Gott und ohne Gerechtigkeit erscheint der Tod als der einzige Ausweg.

Dürrenmatt weigert sich, diese Schlussfolgerung zu akzeptieren. Die „Gerechtlosigkeit“ öffnet die Tür zu anderen  Möglichkeiten. Erstens: Man kann sich entscheiden, ein Zyniker wie die Anderen zu werden. Das erklärt das Verhalten des Herrn Traps im Hörspiel, wo er am nächsten Morgen mit der Idee weiter reist, seinen Konkurrenten das Leben schwer zu machen.

Eine andere Option ist die kantianische Lösung: Es ist wichtig, sich moralische Normen selber zu geben, um eine Waffe gegen die Zyniker zu besitzen. Man muss ihre Regeln nicht mehr  respektieren, weil wir ihnen unsere eigenen Regeln entgegen halten können.

Man muss lernen „nein“ zu sagen und die falschen Kritiker zu ignorieren. Das verlangt die Entwicklung einer kritischen Meinung.

Auf jeden Fall bedeutet die Aussage, dass das Leben ein Spiel ist, nicht, dass das Spiel frivol und leichtsinnig sein muss. Sonst fragen Sie den Pokerspieler!


Bis zur nächsten Woche!

Isabel Viñado Gascón




















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