Donnerstag, 25. Juni 2020

Bedingungen des Fortschritts



Das Thema ist extrem schwierig und unter den gegenwärtigen Umständen ganz besonders, würde ich sagen. Das Problem ist nicht nur, dass das Coronavirus unsere Schwäche vor der Krankheit und dem Tod zeigt. Auch die wirtschaftliche Krise verpflichtet uns zu einer Reflexion. Aber vor allem die Krise in der Gesellschaft, die eigentlich die Krise der Gesellschaft selbst ist, treibt mich persönlich in die Konfusion. Die Krise der Gesellschaft konfrontiert uns mit etwas, was ich selbst nie als möglich erwogen hätte: die Ausnutzung und die Entleerung der Menschenrechte, um die Demokratie zu destabilisieren. Man kämpft für die Frauenrechte in Westen, nicht dort wo die Frauen keine Rechte haben. Man kämpf für die Kinderrechte im Westen, nicht dort, wo die Kinder keine Rechte haben. Man lässt unsere Jugend gegen Windmühlen kämpfen, und ich frage mich, ob sie ihre Kräfte behalten werden, wenn die Stunde des Kampfes gegen den richtigen Riesen kommt.


Warum ist es schwer über die Bedingungen des Fortschritts zu schreiben? 

Weil es schwierig ist, die Gedanken einzuordnen. Es ist schwer das Wissen zu strukturieren, die Situation zu analysieren ohne in Defätismus oder Utopie zu verfallen, Argumente aufzubauen mit der notwendigen Nüchternheit und Bescheidenheit, die man braucht um kritische und ehrliche Urteile zu konfigurieren. 


Die Frage ist da: Bedingungen des Fortschritts.

Und bevor wir eine Antwort gefunden haben, bekommen wir schon neue Fragen:

„Was ist Fortschritt?“ Ist Fortschritt das Synonym für Wohlstand? Ist Fortschritt ein Synonym für die Anzahl von Patenten? Ist Fortschritt ein Synonym für Gerechtigkeit, für das Niveau der sozialen Moral in einer Gesellschaft?

„Wohin mit dem Fortschritt?“ Um neue Menschenarten zu schaffen? Um das Universum zu kolonisieren? Um besseren Gesellschaften zu erreichen? „Was ist „eine bessere Gesellschaft“? Ist es das eine ökologische Gesellschaft, oder eine industrielle Gesellschaft? Ist das eine Gemeinde oder eine globale Gesellschaft? Eine Gesellschaft der Humanisten und Philosophen, oder eine Gesellschaft der Wissenschaft? Warum sollte eine Gesellschaft der Wissenschaft auch eine Gesellschaft der Philosophen sein? Wozu braucht die Wissenschaft den Humanismus und die Philosophie mehr als die Ergebnisse? Im Wettlauf um eine Impfung gegen das Coronavirus sind viele ethische Tabus gebrochen, - habe ich gehört.

Aber bleiben wir bei unserer Frage:

„Welche Bedingungen sind nötig für den Fortschritt?“

Albert Schweitzer in seinem Buch "Kulturphilosophie, Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik" nennt zwei Bedingungen: Optimismus und Ethik.

Eigentlich sind diese zwei Bedingungen das Gegenteil von dem, was Nietzsche behauptet. Nietzsche kritisiert den sokratischen Optimismus und er plädiert für eine Inversion der Werte. Hat er wirklich eine Inversion der Werte verteidigt, oder eher eine Rückkehr zu einer neuen Ehrlichkeit, dem Beispiel jener frühen christlichen Sekten, die eine Rückkehr zu der Wahrhaftigkeit der ersten christlichen Gemeinden predigen? Aber dieses Thema möchte ich jetzt nicht vertiefen. Eigentlich ist das gleichgültig.  Mit oder ohne Nietzsche diese Inversion war schon da. Es hatte mit der Inversion des deutschen Idealismus zu tun. Die Inversion des deutschen Idealismus hat den nihilistischen Materialismus erzeugt.

Immer muss ich mich fragen, ob Hegel der größte Philosoph aller Zeiten ist, oder eher der „Antichristus“ der Philosophie. Er hat die Philosophie bis auf den letzten Tropf ausgepresst. Er hat auf die guten Ratschläge Kants nicht gehört. Kant der Vernünftige Anspruch gewarnt, das Ding an sich zu erkennen, weil es einfach unmöglich war es mit den Kenntnissen zu erreichen; es war unmöglich das Ding an sich in das Ding für uns zu verwandeln.  Das Noumenon würde immer wie ein unerreichbarer Kern bleiben. Aber Hegel der Panphilosoph aus Württemberg wollte unbedingt die letzte geschlossene Tür öffnen, und glaubte die richtige Methode gefunden zu haben. Ob er das Ding an sich erreicht hat, ist zweifelhaft. Was er aber geschafft hat ist die Tür der Inversion zu öffnen, die Tür zum dialektischen Materialismus, und damit jene Tür zu öffnen, die zum Nihilismus führt.
Hegels Erklärung des Endes der Geschichte bedeutet auch das Ende der Philosophie. Nicht das Ende der akademischen Philosophie ist damit gemeint, sondern das Ende der „Philosophia Perennis“, die auch Hermetische Philosophie genannt wird. Entgegen dem oberflächlichen Vorurteil vieler Leute hat die hermetische Philosophie mit Esoterik oder Spiritualismus oder mit Spiritismus nichts zu tun. Die hermetische Philosophie ist die Grundlage, (das Grundwasser sozusagen) der akademischen Philosophie. Sie bildet die Trägersicht der akademischen Philosophie, der „oberflächlichen“ Philosophie, der sichtbare Philosophie.

Die hermetische Philosophie, die Philosophia Perennis, hatte den Mensch mit dem Universum, mit den höheren Kräfte des Universums verbunden.

Die Existenz diese höheren guten Kräfte bedeutetet die Existenz der unteren bösen Kräfte. Die Kräfte waren, in der Tat überall aber nicht jede Kraft hatte dieselbe Natur. Der Mensch musste achtsam werden. Fortschritt bedeutete die Entwicklung dieser Achtsamkeit. Deshalb war diese „Selbstachtung“ („Achtsamkeit“) als erste Bedingung des Fortschritts so wichtig.

Nehmen wir Dante zum Beispiel.

Dante geht in die Hölle. Aber seine Reise ist mehr eine Reise nach vorne als eine Reise in den Fortschritt. Er geht in die Hölle, um so schnell wie möglich dem Horror der Hölle zu entfliehen. Dantes Richtung geht nach vorne und nach oben.

Passen Nihilismus und Fortschritt zusammen? Können beide Begriffe zusammen koexistieren?

Wiedermal klingt die alte Frage an: „Was ist Fortschritt?“

Wiedermal zeigt die deutsche Sprache ihre bildliche Kraft.

Fortschritt: Fortschreiten, ein Schritt fort.

Ein Schritt fort, ja. Aber wohin?

„Ein Schritt fort“ ist etwas anderes als „ein Schritt nach vorne“. Wenn man einen Schritt nach vorne macht, weißt man genau die genommene Richtung.

Aber was ist, wenn man einen „Schritt fort“ macht?

In diesen Fall ist die Richtung noch nicht entschieden.

Hegel hat die Kiste der Pandora geöffnet. Sein Versuch (und seine Versuchung) nach „vorne zu gehen“ hat die Inversion des Idealismus in Materialismus ermöglicht. Das Materialismus bedeutet durch die Materie zu dringen, in die Materie zu geraten, die Materie zu durchbohren. Immer tiefer, zu einer immer dunkleren Kammer bis es kein Licht mehr gibt. Noch nicht mal Materie. Der Geist ist zuerst Materie geworden und dann Nichts geworden. Der Geist ist gespenstisch geworden. Was ist ein Gespenst? Etwas dass ohne richtiges Bewusstsein, ohne richtiges Sein, existiert. Nichts und Etwas gleichzeitig. Das ist eigentlich Nihilismus: der Ort wo „Sein“ und „Nichtsein“ sich vereinen und das Chaos erzeugen. Nach dem Nihilismus „tot zu sein“ ist eine Situation und in diese Hinsicht „tot zu sein“ ist schon etwas. Nihilismus verdammt im selben Maß zur Freiheit, wie ein Gespenst zum Leben verdammt ist. Nihilismus ist das Bewusstsein, dass das Leben Nichts ist, deshalb ist Nihilismus ein Leben im Tode: weil Nihilismus das Leben wie ein Gespenst verbringt. Nihilismus verdammt zur Freiheit. Freiheit ist keine Befreiung mehr. Wie könnte ein Gespenst frei sein? Das Gespenst findet keine Ruhe, keine Befreiung in der Tat, in der Aktion, in der Handlung. Niemals ist es befreit, niemals ist es zufrieden, niemals finde es Frieden. Niemals kann es sich sehen. Das Gespenst kann sich sie nie im Spiegel sehen. Das ist eine extrem wichtige Information. In der hermetischen Philosophie deutet der Spiegel auf das Wort „spekulative“. „Spekulative“ komm von lateinischen Wort:„speculum“ („Spiegel“).

Das Gespenst kann sich nicht sehen, weil es kein richtiges Bewusstsein hat. Deshalb kann es auch nicht richtig „sehen“ was von ihm ausgeht. Das Einzige, was es sehen kann sind Effekte, Konsequenzen, Tränen, Lachen… Das Theater, etwas in Szene zu setzen ist immer dabei.   Das Gespenst ist frei sich durch das Schloss des Lebens zu bewegen, aber diese Freiheit ist nur ein Herumstreichen, ein Vagabundieren, ein Herumhängen.

Dante tritt ab.

Auftritt Freud.

Freud versucht zu erreichen, was früher Dante gemacht hatte. Aber Freud will nicht nur einen Besuch in der Hölle abstatten, als Warnung gegen das, was passieren wird, wenn jemand dort eingeschlossen bleibt. Freud ist ein aufgeklärter Mensch. Er will mehr, viel mehr als Dante erreichen. Er will der Zerstörer der Hölle werden.  Er will die Hölle aufzuräumen, damit es keine Hölle mehr gibt. Er will die Hölle abzuschaffen, damit das Leiden endlich verschwindet. Was er eigentlich versucht ist  der Erlöser des Gespensts zu werden!

Freud ist der neue Messias.

Leider hat er keinen Erfolg. Freud kennt das Leiden der Hölle, das religiöse Leiden, aber er kennt nicht das Leiden des Nihilisten; er kennt nicht das Leiden des Gespenstes. Er kann sich nicht das Schlimmste vorstellen. Dass nämlich das Gespenst dortbleiben will, wo es ist. Das Gespenst will nicht erlöst werden. Das Gespenst will eigentlich, dass die anderen Bewohner des Schlosses des Lebens auch Gespenster werden. Das nihilistische Gespenst fühlt sich immer allein. Deshalb gibt es in der Kollektiven Masse immer etwas Gespenstisches, etwas Nihilistisches. („Brodeck´s Report“ von Philippe Claudel)

Die Abschaffung der Hölle, die Reise nach oben bleiben als Utopie. Dem Gespenst passiert, was viele Gefangene passiert, wenn sie zu lange in der Gefangenschaft gewesen sind: Sie empfinden die Hölle als ihr wahres Zuhause. Deshalb wollen sie nicht mehr weg. Das Gespenst bleibt da unten; in der Hölle mit seinen Traumata; als dem einzigen Ort, der verständlich für es ist.

Fortschritt.
Fort von dieser Gefangenschaft zu gehen.
Fort von dem gespenstischen Zustand zu gehen.
Man kann die Hölle nicht abschaffen. Nicht als Mensch.
Man kann fort gehen: nach oben.
Fort vom Nihilismus. Fort vom Nichts.

Optimismus, als erste Bedingung für den Fortschritt, weil Pessimismus nur nützlich ist, wenn man selbst starker als dieser ist.
Optimismus: Auch wenn es eine Hölle gibt, und gerade, weil es eine Hölle gibt, gibt es einen Himmel.
Da es eine Hölle gibt, gibt es auch einen Himmel, und weil der Mensch nach Abbildung Gottes gemacht ist, können wir, - auch wenn wir nicht ganz die Hölle zerstören können - den Himmel auf Erde erweitern.

Ethik: Es gibt „schlechte Taten“ und „guten Taten“. Es gibt zwei Richtungen: eine Richtung „nach unten“ und eine andere Richtung „nach oben“. Die Ethik (die Ethik von  der sokratischen Antigona) befreit uns von der Tyrannei der anderen Menschen, von der Tyrannei des Gespenstes.
Ethik verdammt uns nicht zur Freiheit. Ethik verpflichtet uns zur Freiheit. Freiheit zu wissen, zu denken, zu reflektieren, zu entscheiden, zu handeln. Aber Ethik verpflichtet uns auch vor allem zur Ehrlichkeit. Ehrlichkeit zu unserem Wissen, zu unserem Denken, zu unseren Reflektionen, zu unseren Entscheidungen und Handlungen.

Erste Axiom: Nötig ist ein erstes Axiom, höher und größer und besser als wir selbst, als Referenz, als Leuchtturm in der Nacht. Ob diese Richtung nach oben, direkt oder spiralförmig nach oben geht ist nicht das Wesentliche. Die Wahrheit zählt hier nicht so viel, wie der lebendige und ehrliche Glaube. Ein Glaube, der nicht eingeschlossen bleiben kann, aus dem einfachen Grund, dass es ein lebendiger Glaube ist. Nihilistische Materialismus ist ein erstes Axiom, an das viele mit einem lebendigen Glauben, glauben. Leider verhindert dieses erste Axiom den Fortschritt nach oben, wie wir schon gesehen haben. Der nihilistische Materialismus als Erste Axiom zieht direkt nach unten.
Aber der Nihilistische Materialismus ist im Moment das erste Axiom. Die Konsequenzen sind fatal. Die technologischen und materiellen Fortschritte sind das alleinige Synonym für Fortschritte geworden. Deshalb sollen die technologischen und materiellen Fortschritte erreicht werden, kostet es was es wolle.

Warum?

Bedeuten technologische Fortschritte einen wahren Fortschritt?

Die „Philosophia Perennis“ hat von den ersten Wissenschaftlern: Magier und Alchimisten, ein reines Herz verlangt, weil sie wahrscheinlich ganz genau wussten, dass die Maschinen, die töten können mächtiger sind als die Maschinen, die das Leben retten.

Was ich im Moment sehe, sind Wissenschaftler, die kaum Zeit haben sich um die letzten Fragen des Lebens zu kümmern, weil sie sich um die Ergebnisse kümmern sollen. Der Wettlauf um die Impfung gegen das Coronavirus bedeutet nicht nur eine Wettlauf um die national Ehre, auch nicht einen Wettlauf um das Geschäft, sondern hat auch viele Tabus in den Standards bei Versuchsreihen gebrochen.

Was ich beobachte ist nicht die Sorge um das Denken, sondern die Beschäftigung mit den Entwicklungen von Strategien.

Was ich sehe, ist nicht eine Entfremdung zwischen Menschen und Technologie, sondern das Streben des Menschen, Roboter zu werden.

Was ich merke ist, dass die Gesellschaft immer weniger eine Gesellschaft ist und immer mehr ein System. Aber das System funktioniert nicht richtig, weil der Mensch immer noch menschlich, zu menschlich ist. Deshalb soll der Mensch Roboter werden: damit das System besser funktionieren kann.

In Moment ist meine Sorge, dass die Gesellschaft ihre Werte erschöpft, in derselben Art und Weise in der Hegel die hermetische Philosophie, die Philosophia Perennis, erschöpft hat: weil die Gesellschaft ihre Werte bis zum letzten Kern durchbohrt. Der Idealismus hat das Gegenteil dessen erreicht, wonach er suchte.  Meine Sorge ist das die aktuelle Gesellschaft ihre Werte entleert, dass nicht die perfekte Zivilisation erreicht, sondern die perfekte Barbarei entwickelt und ein anscheinend gut funktionierendes System bekommt.

Ich komme schon zum Ende. Ich weiß nicht, ob mein Gedanke interessieren. Vielleicht hätte ich lieber schweigen sollen...


Isabel.




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