Sonntag, 21. Oktober 2012

Hotel Savoy (1924) Joseph Roth


Das Buch beginnt mit der Ankunft von Gabriel Dan im Hotel Savoy. Nach drei Jahren in einem siberischen Kriegsgefangenenlager und einer Reise, der er mit Gelegenheitsarbeiten finanziert hat, kommt er in die Stadt. Seine Absicht ist es, dort zu bleiben, bis er das nötige Geld für die Weiterreise nach Amerika zusammen hat.

Die Hotelgäste gehören allen sozialen Klassen an. Dennoch eint sie ein gemeinsames Element: die Entwurzelung.  Die meisten von ihnen möchten das Hotel verlassen. Allerdings hält sie die familiäre Atmosphäre, die sie dort erleben, und die Unmöglichkeit, einen anderen Ortzu finden, wo sie sich neiderlassen könnten, zurück.

So betrachtet ist das Hotel zugleich Heimat und Gefängnis. Für einige wird es sogar zum eigenen Sarg. Es wird nicht sehr lange dauern bis Gabriel Dan einige der Gäste kennen lernt.

Stasia: Sie arbeitet als Tänzerin in einem Varieté-Theater. Gabriel ist in sie verliebt, traut sich  aber wegen seiner Armut nicht, seine Liebe zu bekennen. Stasia geht eine Beziehung mit Gabriels Cousin Alexander ein: ein Windbeutel mit Geld.

Santschin: Er ist der Clown des Varieté-Theaters. Die Leute sagen, dass er plötzlich krank geworden sei. Der Autor Roth verrät dem Leser, dass Santschin eigentlich schon seit zehn Jahren am Sterben sei. Santschin will nicht zum Artzt gehen, weil sein Großvater und Vater auch ohne Arzt gestorben seien. Trotzdem holen seine Freunde den Hotelarzt. Nach seiner Überraschung verschreibt er dem Kranken Wein. Der Arzt erklärt, dass Santschin nicht mehr als zwei Flasche überleben werde. Wenigsten solle er glücklich sterben.

Hirsch Fisch: Er lebt im letzten Zimmer am Ende des Ganges im obersten Stockwerk des Hotels: Zimmer 864. Je ärmer der Gast, desto höher das Stockwerk, in dem er einquartiert wird, und desto weniger Leistungen bekommt er. Industrielle und Händler bezahlen das Zimmer von Hirsch. Es gibt Gerüchte, dass Hirsch selbst eines Tages auch ein reicher Händler gewesen sei. Er hat alles wegen seine Nachlässigkeit verloren. Hirsch betrachtet sich als „Träumer der Zahls der Lotterie“. Er verkauft die Nummern, die er in seinen Träumen sieht.

Abel Glanz: Er ist ein kleiner, schäbig gekleideter und unrasierter Mann. Er hat als Souffleur in einem rumänischen Theater gearbeitet. Er macht gute Geschäfte mit Devisen-Valuta.

Ignatz: Er ist der alt gewordene Liftboy des Hotels. Wenn ein Gast kein Geld hat, um seine Hotelrechnung zu bezahlen, nimmt er die Koffer des Gastes in Pfand und verschließt sie mit einem selbst erfundenen Patentschloß.

Frau Jetti Kupfer: Sie ist die „alma mater“ der Hotelbar. Sie ist Chefin einer Truppe von Mädchen, die als Nackttänzerinnen die Gäste der Hotelbar unterhalten.

Der Arzt: Er kommt täglich um fünf Uhr in die Hotellobby. Er ist ein ehemaliger Militärartzt.

Xavier Zlogotor: Er ist Magnetiseur. Er erzählt, dass er seine Kunst von Fakiren in India gelernt habe.

Zwonimir Pausin: Ein Kroate, wie Gabriel Dan ein Rückkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft. Er diente mit Gabriel Dan in einer Kompanie. Im Unterschied zu den anderen Rückkehrern ist er nicht zu Fuß, sondern mit dem Zug in der Stadt angekommen.

Zwonimir ist ein geborener Revolutionär. Er behandelt jeden wie einen alten Bekannten und macht sich über alle lustig, sodass sich niemand traut, ihm etwas zu sagen.

Bloomfield: Er ist ein Millionär, der aus Amerika zu Besuch in die Stadt kommt, aus der er als junger Mann ausgewandert war. Viele Bewohner in der Stadt hoffen Geld von ihm zu bekommen. Eigentlich will er nur den Grab seines Vaters besuchen. Bloomfield gibt Gabriel das Geld, dass er um nach Amerika weiter zu verreisen, benötigt.

Kaleguropulos: Er ist der unsichbare Besitzer des Hotels, den niemand je gesehen hat.

Andere Figuren, die nicht im Hotel leben, aber ebenfalls ein wichtige Rolle in der Handlung des Buchs spielen, sind:

Phöbus Böhlaug: Er ist Gabriels Onkel und Alexanders Vater.  Böhlaug lebt in der Stadt und ist ein reicher Geschäftsmann. Er weigert sich indes, Gabrie finanziell zu unterstützen.

Neuner: Er besitzt eine Borstenfabrik. Das einzige, was ihn interessiert, ist Geld zu verdienen. Als die Krise einbricht handelt er lieber mit Valuta  und spekuliert an der Börse als sich um die Fabrik zu kümmern.

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Die soziale Situation, die das Buch beschreibt, ist katastrophal. Die Arbeitlosigkeit ist sehr hoch. Die Arbeit in der Fabrik ist ungesund und schlecht bezahlt. Schweineborsten sind von Staub und Schmutz zu reinigen, um daraus Bürsten herzustellen. Viele Arbeiter erkranken wegen des Staubs an den Lungen und sterben mit fünzig.

In der Stadt wächst das Unbehagen. Ein Arbeiter lässt sich im Friseursalon des Hotels die Haare schneiden. Er hat aber kein Geld zu bezahlen. Die Polizei nimmt in fest und bringt ihn in Gefängnis. Die Arbeiter demonstrieren vor dem Hotel und dem Gefängnis. Plötzlich ist die Revolution da. Die Arbeiter der Bürstenfabrik streiken - und mit ihnen auch die Arbeiter aus den Textilfabriken.

Eine Typhusepidemie bricht aus. Bloomfield reist nach Amerika zurück, ohne sich verabschiedet zu haben. Die Arbeiter suchen Neuner im Hotel. Er ist zusammen mit seiner Familie geflohen. Die Soldaten kommen. Zwonimir verschwindet. Das Hotel brennt. Viele Gäste sterben, darunter Ignatz. Es stellt sich heraus: Ignatz war Kaleguropulos. Gabriel Dan und Abel Glanz wandern nach Amerika aus.

Viele Schrifsteller benötigen Hunderte von Seiten, um die Unmenschlichkeit zu beschreiben, die Europa während jener Zeit am Ausgang des ersten Weltkriegs heimgesucht hat.

Roth dagegen schafft es, mit wenigen und präzisen Worten die Einsamkeit des Menschen, die Feindlichkeit und Absurdität der Welt zu zeigen.

Das zentrale Thema bei Roth sind die menschlichen Beziehungen. Was bedeutet Blutsverwandschaft, was bedeutet Freundschaft, wann ist Großzügigkeit möglich, wenn überhaupt.

Das Panorama, dass er im Buch bezeichnet, ist ziemlich düster. Roth legt eindeutig dar, dass die Familie kaum die Zuflucht ist, die man in ihr sehen will. Das Bild der Familie als Zufluchtsort ist idealistisch, utopisch. Die familiären Beziehungen verschwinden, sobald es sich nicht um einen bloße Kaffee, sondern um tatsächliche Hilfe handelt. In diesem Sinn greift der Autor die biblische Tradition auf. Im Alten Testament existiert nicht die „große Familie“. Jede Bruder gründet seinen eigenen Stamm. Zusammenarbeit existiert auf Grund der Blutsbande, sondern wegen gemeinsamer Interessen. Das Erstgeburtsrecht  hat Esau und Jacob entzweit. Esau ist nach Edom ausgewandert. Seine Feindschaft hat sich auf seine Nackommen übertragen. Deshalb durfte Moses nicht in sein Land durchqueren, als er auf der Flug aus ägypten war.

Josefs Brüder haben ihn in eine Grube geworfen und verlassen. Seine Rettung hat er Fremden zu verdanken. Der Pharao war derjenige, der ihn reich und mächtig gemacht hat.

In Davids Haus vergewaltigt Amnson seine Schwester Tamar. Absalon bringt deswegen Amnon um und gleich darauf versucht er seinen Vater David zu entthronen.

Gabriels Onkel weigert sich, ihm finanziell zu helfen. Gabriel wird das Geld für die Reise nach Amerika von einem Fremd bekommen – Bloomfield.  Gabriel wird für seine Sekretärsdienste für Bloomfield von diesem ein „königliches Honorar“ erhalten. Der Grund dafür ist kein anderer als reine Sympathie.

Daraus könnte man folgen, dass die Freundschaft das stärkste Bündnis bildet. Aber Roth existentieller Pessimismus lässt nicht für Platz für schnelle Hoffnungen. Hilfe ist nur möglich, wenn es neben der Sympathie noch so viel Geld gibt, dass man solche Hilfe als Wohltätigkeit bezeichnen kann.

Dem selben Stamm anzugehören impliziert nicht bedingungslose Hilfe zwischen den verschiedenen Ästen. Genauso wenig wie Freundschaft und Sympathie von sich aus entstehen, wenn Menschen sich in der selben schwierigen Situation befinden.

Solidarität in schwierigen Zeiten ist unmöglich. Not und Elend eines jeden verhindern die Großzügigkeit. Auch wenn Gabriel Dan behauptet, dass er sich mit seinen Frontkameraden eng verbunden fühlt, ist das mehr das Produkt eines sentimentalen Momentes als  Ausdruck der Realität. Gleich darauf muss er zugeben, dass er nie ein Kameradschaftgefühl gehabt habe. Noch nicht einmal als sie im Krieg waren.

Altruismus ist nur möglich, wenn es genügend materielle Mittel gibt. „Die Menschen sind nicht schlecht, wenn sie viel Raum haben“, schreibt Roth. In Krisenzeiten, wie sie das Buch beschreibt, herrscht Egoismus vor. Das erklärt die Ablehnung, auf die die  Russland-Rückkehrer treffen. Die Zeitungen sehen in ihnen die Ursache aller Probleme, insbesondere als Träger der Revolution. In Wirklichkeit verschlechten die Rückehrer eine Situation, die schon per se schwierig ist. Wie wir schon kommentiert haben ist Brüderlichkeit eine Angelegenheit der Heiligen und Engel, nichts der Menschen.

Roth kritisiert das Elend, das die Industrialiesierung mit sich bringt. „Gott straft diese Stadt mit Industrie. Industrie ist die härteste Strafe Gottes“. Roth zeigt sich aber skeptisch, die Revolution als Lösung zu sehen.

Die Revolution liegt in der Luft. Ein kleiner Vorfall – der nach seinem Friseurbesuch verhaftete Arbeiter in den Friseur Salon - enzündet eine schon voraussehbare Explosion. Genutzt hat sie eigentlich nicht viel. Roth bleibt seinem Pessimismus treu und ist überzeugt, dass für einige die Revolution zu ihrer Natur gehört. Er nimmt Zwonimir als Beispiel: „Agitator, aus Liebe zur Unruhe. Er ist ein Wirrkopf, aber ehrlich, und der glaubt an seine Revolution“. Auch wenn er seine Aufrichtigkeit bewundert, wiederholt Roth seine Behauptung, dass Revolutionen an sich wertlos sind. Im Gegenteil: Sie erzeugen noch mehr Gewalt. Dem Fabrikanten Neuner gelingt es zusammen mit seiner Familie zu fliehen. Zwonimir verschwindet zwischen den Opfer, die sich auf der Straße anhäufen. Gabriel Dan hält ihn für tot. Revolutionen wie Kriege, lassen nur  Leichen auf ihrem Weg zurück.

Gabriel Dan gesteht, dass ihn Revolutionen nicht interessieren. Er gibt zu, dass er zu egoistisch ist. Die Arbeiterstreiks gehen ihn nichts an.

Meiner Meinung nach ist nicht Egoismus der Grund warum Dan weiter läuft ohne anzuhalten, um zur Lösung der sozialen Konflikte beizutragen zu versuchen. Vor allem ist es der Wunsch zu leben zusammen mit dem Ekel, den er vor  menschlichen Konflikten empfindet. Ebenso wie Remarque klagt Roth das geistige und soziale Elend an, das der Krieg in sich trägt. Der Krieg zwingt die Menschen, sich gegenseitig zu ermorden, ohne einen Grund dafür zu haben; ohne sich gekannt zu haben.

 

Gabriel Dan schwankt zwischen den Gefühlen der Solidarität und des Egoismus. „Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen.“

Die Lösung ist die radikale Freiheit: Nirgendwo hin zu gehören. Mitglied keiner Gruppe zu sein. Der Zwang abzureisen. Es gibt nur das „weiter und weiter gehen“. Roth zeigt den Schrecken angesichts einer tiefen Beziehung und gleichzeitig den Wunsch, verschiedene Lebensweisen und Personen kennenzulernen, mit denen wir nur in bestimmten Momenten und konkreten Situationen verbunden sind.

Jene, die in dem Glauben anhalten,  am Ziel angekommen zu sein, sterben. Der Tod ist absurd und erreilt alle. Das Leben ist nicht ein „Wandeln“, sondern ein „sich richten auf“.

Trotzdem liegt das Ende der Reise immer vor uns selbst. Weder die innere Natur des Menschen, noch ein göttlicher Fluch dienen hierfür als Erklärungen. Es sei denn, dass jemand irrigerweise dächte, dass Entwurzelung zu einer dieser beiden vorgenannten Kategorien – menschliche Natur oder göttlicher Fluch - gehört. In Wirklichkeit sind wir nie, wo wir uns befinden. Gerade das Bewußtsein, dass wir keine Heimat haben, zwingt uns weiter zu gehen. Es handelt sich nicht um die Entdeckung des Paradieses. Was uns treibt, weiter voran zu gehen, ist der Wunsch, dort anzukommen, wo „sein“ und „sich befinden“ übereinstimmen. Hin und Wieder erfasst uns das Bedürfnis, uns irgendwo zu etablieren. Aber das Leben, der Wunsch zu leben, drängt dazu weiter zu laufen. Die ewige Wiederkehr existiert nicht. Die ewige Wiederkehr ist unmöglich. Die Welt verändert sich unerbittlich.

Zu glauben, dass man zu einem Ausganspunkt zurück kehren kann, ist eine Chimäre. Die Orte sind nie, was sie einmal waren; die Menschen auch nicht. „Ein großes Heimweh geht von ihnen aus, die Sehnsucht vorwärtstreibt und eine verschüttete Erinnerung an Heimat”. Der Marsch geht immer nach vorne. Vielleicht nicht immer geradlinig, aber auf keinen Fall im Kreis.

Bloomfield vertraut Dan an, wo sich die richtige Heimat befindet: Der Ort, in dem unsere Verstorbenen begraben sind. Das Leben und der Tod marschieren zusammen. „Wenn mein Vater in Amerika gestorben wäre, könnte ich ganz in Amerika zu Hause sein. Mein Sohn wird ein ganzer Amerikaner sein, denn ich werde dort begraben werden. (...) Das Leben hängt so sichtbar mit dem Tod zusammen und der Lebendige mit seinen Toten. Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung“.

Jedoch ist es Roth – Roth der Pessimist – der letztlich die Heimat des Millionärs Bloomfield zerstört und ihn in geistiger Bedürftigkeit belässt. Die sozioökonomischen und politischen Umstände in der Stadt werden Bloomfield  daran hindern, das Grab seines Vaters wieder besuchen zu können. „Er wird seine Sehnsucht unterdrücken, Henry Bloomfield“. Sein Reichtum hilft hier nicht. Das Geld kann nicht alle Hindernisse überwinden. Bloomfield, der Millionär Bloomfield, ist selbst auch wurzellos und wie alle Entwurzelte dieser Erde verspürt auch er Heimweh nach einer Heimat, die er nicht hat. Ihr Fehlen bedeutet weder eine Verfluchung noch eine Befreiung. Die Entwurzelung ist die primäre Realität, die der Mensch akzeptieren muss, um überleben und vorwärts gehen zu können. Niemand weiß genau wohin. Das ist indes gleichgültig. Wichtig ist vielmehr nur immer vorwärts zu laufen. Das ersehnte Amerika deutet lediglich den Name des neuen Zieles an, nicht den einer neuen Heimat. Die Neuankömmlinge werden weiter ihre wurzellose Natur mit sich schleppen müssen; sogar hoffnungloser als früher. Wie Singer in seinem Roman „Schatten über den Hudson“ bedauert, wird es zwischen den Eltern, die nach Amerika gekommen sind und ihren Kinder, die dort geboren sind, nicht einmal die Affinität der Sprache existieren.

Einsamkeit ist das Axiom, auf  das sich die menschliche Existenz gründet. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir den Tod vermeiden.

Manchmal ist der Pessimismus das einzige, was uns rettet.

Vorausgesetzt wir sind stärker als er...

Bis zur nächsten Woche!

Isabel Viñado Gascón



 

 

 

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Mittwoch, 3. Oktober 2012

Die Welt und ich – eine Reflexion über Verschwörungstheorien (2012) Carlota Gautier


Vor zwei Wochen habe ich einen Brief meiner Freundin Carlota erhalten.

Ich fand diesen Brief so interessant, dass ich ihn auf meinem Blog posten wollte. Ich habe sie um ihre Erlaubnis gebeten. Sie hat unter der Bedingung zugestimmt, dass ich rein private Passagen streiche. Auch die Personen,  die Carlota in ihrem Brief nennt, haben keine Einwände erhoben, ihre Namen und Kommentare hier veröffentlicht zu sehen.

Was den Titel „Die Welt und ich“ betrifft, so ist er eine Anspielung auf den Filmtitel „Der König und ich“ . In diesem Film arbeitet eine englische Lehrerin im Palast des Königs von Siam. Sie verbringt ihre Existenz in einer ganz anderen Welt als ihrer eigenen. Die neue Situation verursacht einige Konflikte zwischen ihr und dem König. Mit der Zeit jedoch ermöglicht  die Annäherung ihrer jeweiligen Positionen sogar eine schöne Liebesgeschichte.

Vielleicht ist das auch das Schicksal, dass Carlota in ihrer Beziehung mit der bisher für sie unverständlichen Welt erwartet.

 

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Liebe Isabel,

einige Menschen wissen bereits seit dem Zeitpunkt ihrer Geburt, worin das Leben und die Welt bestehen. Ich habe Kinder kennen gelernt, die schon als Siebenjährige das Leben in ihrer Umgebung souverän  beherrschten. Ihr Alter ist das einzige, was diese Kindern  daran hindert, sich von ihren Eltern unabhängig zu machen. Solche Menschen haben sich allerdings nie große Gedanken über den Sinn des Lebens, der Geschichte oder der Moral gemacht. Sie kennen die Spielregeln des Lebens und sie spielen es. Man muss neidlos anerkennen wie wertvoll ihre Hilfe ist, wenn es darum geht, eine Lösung für Alltagsprobleme zu finden.

 Andere - wie du weißt – bemerken mit vierzehn Jahren, dass die Realität der Welt nicht viel gemeinsam mit dem Bild hat, das Medien, Kirche, Schule und andere Institutionen uns zeigen.

Die Entwicklung ihrer Intelligenz förderte – nicht immer ohne Recht- ihr Misstrauen gegenüber den etablierten Schemata. Trotzdem haben sich nur ganz wenige von Ihnen der aktiven Politik gewidmet.

Ihr Misstrauen richtet sich gegen alle Strukturen. Sie glauben nicht an die Möglichkeit eines Wechsels, noch nicht einmal an die Möglichkeit einer strukturellen Reform. Die meisten haben sich lieber in Bücher geflüchtet. Zu meiner Überraschung haben sie nicht Philosophie oder Philologie studiert, sondern Psychologie, Medizin und Jura.

 Ich muss zugeben, dass ich auf beide Gruppen neidisch bin. Noch nicht einmal heute weiß ich, worin das Leben genau besteht. Die Bücher, die ich gelesen habe, haben mich immer tiefer in ratloses Erstaunen gestürzt.

Wahrscheinlich verstehst du nicht, warum ich Dir das alles erzähle. Die Sache ist, dass ich mir seit ungefähr drei Monaten auf YouTube alle möglichen Videos über Verschwörungstheorien angesehen habe.

 Als ich gegenüber Personen der ersten oben genannten Gruppe den Inhalt solcher Videos erwähnt habe, haben sie keine Reaktion gezeigt. Sie haben für mich eine Limonade bestellt; danach haben sie sich weiter über die letzten Ereignisse unserer Gegend unterhalten.

Nicht, dass sie von diesem Thema nichts hören wollten. Sie wußten einfach nicht, worüber zum Teufel ich gesprochen habe.

 Als ich der zweiten Gruppe von meiner überraschenden Entdeckung eines „underground“ mit weltweiten Dimensionen erzählt habe, haben sie mir ein mitleidiges Lächeln geschenkt und sich weiter über Gehirnmanipulation unterhalten.

 Ach, was soll’s? Wahrscheinlich haben sie alle Recht.

Für die erste Gruppe ist das einzige Reale das Anfassbare. Das Existente ist das Erkennbare.  Für die anderen macht die Schwäche unserer Natur uns zu einer leichten Beute für die Raubtiere unserer eigenen Spezies. Diese Raubtiere zu besiegen, ist unmöglich. Deshalb ist es das Intelligenteste, Maßnahmen zu treffen, um sich in Sicherheit zu bringen. „ „Das Beste“ – sagten sie – „ist, die Lösungen für die psychischen, gesundheitlichen und rechtlichen Probleme der Raubtiere parat zu haben.“ Du weißt schon, wie sie denken: „Information ist Macht.“

 Ich habe weiter darüber nachgedacht. Ich habe jede unserer Unterhaltungen über die Vorteile des Individualismus, der Assoziierung auf kleiner Ebene und die Urteilskraft in meinem Kopf reproduziert. Jetzt frage ich mich, ob das alles als Stützmauer dienen kann, um das, was auf uns zukommt, zu stoppen - falls diese Videos die Wahrheit zeigen.

Es ist ratsam, sie mit demselben intellektuellen Abstand anzusehen, wie ihn ein Anthropologe wahrt, der einen neuen Volksstamm entdeckt hat.

 Ich habe diese Videos auf französisch, spanisch, deutsch und englisch gesehen. Alle behaupten mehr oder weniger dasselbe. Viele sind Übersetzungen amerikanischer Videos. Nach solchen auditiven, visuellen und vor allem geistigen Marathonsitzungen, habe ich sie in zwei verschiedene Blöcke getrennt.

 

1.      Die überirdische Verschwörung: Hier gibt es zwei Abteilungen von Verschwörungstheoretikern, nämlich wissenschaftliche bzw. pseudo-wissenschaftliche: Die Welt wird Opfer entweder von Außerirdischen oder von Naturkatastrophen; religiöse bzw. pseudo-religiöse: und zwar entweder positiv - Gottes Weltgericht nähert sich - oder negativ – der Antichrist wird die Menschheit beherrschen.

 

2.      Die politische Verschwörung war schwieriger zu verstehen. Sie umfasst die technologische und wirtschaftliche Konspirationen - beide sehr komplex.

 
Die politischen Verschwörungen verhüllen einen geheimen Plan, um dessentwillen die mächtigsten Eliten des Planeten eine Neue Weltordnung zu errichten versuchen. Das würde die Enstehung einer zentralistischen und diktatorischen politischen Macht bedeuten. Dieses Ziel ist nicht neu. Seit Jahrhunderten verfolgen bestimmte geheime Gruppen  dieses Ziel. Jetzt aber haben sie erreicht, was als „letztes Stadium“ bezeichnet werden kann. Demnach braucht man nun „letzte Mechanismen“ für die Errichtung der neuen Ordnung.

Einer dieser Mechanismen liegt danach in der Manipulation der Bürger. Die heimlichen Eliten provozieren Krisen, die bei den Bürgern einen „Schock“ verursachen. Dies dient den Anhängern der Neuen Weltordnung  als Vorwand, „notwendige“ Maßmahmen vorzuschlagen, die vor allem die Freiheit einzuschränken  beabsichtigen. Auf Grund des Ernstes der Situation nehmen die Bürger sie ohne Widerspruch hin. Mit der Zeit verlieren die Bürger das Gefühl, dass ihre Freiheit eingeschränkt wurde. Der Ausnahmezustand wird zur Normalität.

 So hat der „Schock“ einer Welwirtschaftstkrise die Arbeitsbedingung verschlechtert. Die Arbeitnehmer haben länger für weniger Lohn zu arbeiten und ihre Arbeitsstellen werden immer gefährdeter. Da sie sich nicht genug ausruhen können, bedeutet dies, wie die Zeit der frühen Industrialisierung zeigt, eine Zunahme der Krankheiten. Gleichzeitig lässt das Engagement, ihre Arbeitssituation zu verbessern, nach. Sie sind einfach zu müde und zu unsicher, um zu protestieren.

Der „Schock“ des Terrorismus führte zur verstärkten Überwachung der Bevölkerung. Nach den Videos, die ich gesehen habe, haben die heimlichen – oder sollte ich sagen unheimlichen – Eliten, den Terrorsimus benutzt, um die Bürger zu verschrecken und zu veränstigen. Sie sind so um ihre Sicherheit besorgt, dass sie jede Kontrolle akzeptieren. Ausgefeilte Sicherheitstechnologien dienen auf diese Art und Weise der Neuen Weltordnung.

Neben die Kontrolle der Individuen von außen treten auch verschiedene Manipulationstechniken. Sie lenken und kontrollieren das Verhalten des Individuums, ohne dass dieses davon etwas bemerkt.

Diese Videos behaupten, dass die Anhänger der Neuen Weltordnung in ständigen Real-Experimenten, die Formbarkeit der Bürger austesten. Der spektakulärste Test ist der Krieg gegen die Raucher. Mit ihm werde versucht heraus zu finden, wieviel Zeit und wieviele Energien notwendig sind, die Bürger dazu zu bringen, Raucher anzuzeigen, die ihre Zigarette nicht an den dafür vorgesehenen Orten anzünden.

Diese Videos meinen, dass die Regierungen lügen. Sie geben vor, dass solche Maßnahmen der Volksgesundheit dienen und die Kosten für die Krankenkassen senken. In Wirklichkeit aber, so meinen die Verschwörungstheoretiker, sind die Bürger mit verschiedener Substanzen im Trinkwasser, in Medikamenten und Impfungen vergiftet worden. Sie schwächen die Konzentrationsfähigkeit und das Immunsystem der Bevölkerung.

Die Bevölkerung muss hochentwickelte Techniken gegen den Terrorismus erdulden; sie sind müde wegen des Stresses in der Arbeit; Sie sind arm, weil der Lohn zu niedrig ist; und dank raffinierter mentaler Manipulationsmethoden haben sie ihr eigenes Verhalten nicht mehr unter Kontrolle.

Es wird nicht viel Zeit vergehen bis die Neue Weltordnung ihre Ziele erreicht haben wird: Die Bevölkerung wird versklavt und die heimlichen Eliten werden die Herren der Welt sein.

Aus der Globalisierung ergebe sich letztlich nicht die Freiheit der Märkte und Informationen, sondern die Versklavung der Menschheit. Auf die Frage wer die „Herren der Welt“ sind bekommt man verschiedene Antworten: „Wall Street“ und unbestimmte „geheimen Elitegruppen“ .

Wer dazu genau gehört, weiß man nicht. Man spricht von der „Bilderberg Gruppe“ und den „Judeo-Freimaurer-Nazis-Ultrachristen“. Auf die Frage, wie es denn möglich sei, dass Juden mit Nazis und Freimaurer mit Ultrachristen zusammenarbeiten, geben die Videos mit dem Brustton der Überzeugung eine klare Antwort: „Macht, und zwar wirtschaftliche Macht.“. Dieses Ziel eine sie alle.

Auf jeden Fall ist dieses Komplott gegen die Menschheit durch die ökonomischen Eliten aus Nordamerika und Europa in Gang gesetzt worden. Sie wünschen die absolute Kontrolle über den Planeten. Sie kennen keine Grenzen, wenn es darum geht, dieses Ziel zu erreichen. Sie lassen sich weder durch Religionen noch Sitten und Kulturen aufhalten.

Die Kritik an der Globalisierung ist sehr heftig. Man könnte sogar denken, dass der Begriff „Menschheit“ verdächtig ist, weil er die Individuen uniformiert und sie ihrer partikulärer Besonderheiten entblößt. Wahrscheinlich würde dem kein Verschwörungstheoretiker widersprechen. Wie ich Dir schon gesagt habe verfolgt die Neue Weltordnung bereits seit Jahrhunderten das Ziel der Weltbeherrschung. Die Einführung der Universalismus war für Verschwörungstheoretiker hierfür nur ein erster Schritt. Daher fallen selbst universelle Begriffe wie „Menschheit“ unter Generalverdacht.

Gibt es für die Verschwörungstheoretiker jemanden, der die Heraufkunft der Neuen Weltordnung noch aufhalten kann?

Nicht viele. Die westliche Welt bleibt auf Grund Laizismus, Konsumismus und pervertierter Moral blind gegenüber dieser Gefahr. Zudem lenken die Anhänger der Neuen Weltordnung unsere Aufmerksamkeit auf Themen wie die angebliche Lüge über die Erderwärmung.

Nur ein Teil der extremen linken Ideologien sowie einige muslimische Länder sind sich der Gefahr der Neuen Weltordnung bewußt. Sie sind auch die einzigen Kräfte, die jenes Monster aufzuhalten in der Lage wären.

Die Neue Weltordnung weiß dies. Deshalb propagiert sie – so die Verschwörungstheoretiker - Verleumdungen und Lügen: Sie zerstören sich selbst die Twin Towers, sie baut Fiktionen wie Al Qaeda auf, die angeblich in Wirklichkeit nie existiert habe. Sie erfinde Vorwände, Kriege mit unvorstellbaren Dimensionen vom Zaun zu brechen.

Nach diesen Analysen sei die Vernichtung von  90% der Menschheit ebenfalls ein Ziel der Neuen Weltordnung.  Krieg und absichtlich herbeigeführte Krankheiten seien die Mittel.  

Der Mangel an Wasser und Ackerland stünde hinter dieser Vernichtung.  Sie reichen nicht aus, um die ganze Weltbevölkerung zu ernähren.

Kriege bringen zudem große Gewinne mit sich. Dies sei das Hauptziel, das die Verteidiger der Globalisierung anstrebten.

Nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch die Kontrolle über Erdöl, Gas und Metalle lassen die USA so genannte „Befreiungskriege“ führen. Die Bevölkerung dieser Länder seien nicht durch ihre eigenen Regierungen unterworfen. Die Wahrheit ist – sagen die Verschwörungstheoretiker –, dass die CIA sie zu unterdrucken versuchen, um diese Länder ihrer natürlichen Ressourcen zu berauben.

Letztendlich befördern die Kriege die Einführung neuer Regierungsformen, so wie sie sich die Neue Weltordnung vorstellt.

Um ihre Siege zu erreichen, verfügt die Neue Weltordnung über zerstörerische Waffen, die immer und immer effizienter werden. Zu den bakteriologischen Waffen kommen  klimatische Waffen wie HAARP hinzu. HAARP verursache Tzunamis, Erbbeben, Orkane und weitere Naturkatastrophen. Da die HAARP-Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, waren das, was wir bis jetzt gesehen haben, bloße Versuche von Zauberlehrlingen.

Die Videos zeigen, dass die Welt mit der Bedrohung eines drittes Weltkrieg konfrontiert sei;  für manche der vierte, weil sie den Kalte Krieg schon als den dritten betrachten.

Auf jeden Fall könne ein nuklearer Weltkrieg und damit das Ende der Welt nicht ausgeschlossen werden.

Bis hierher, meine liebe Isabel,  eine Zusammenfassung aller Verschwörungstheorien. Ich muss zugeben, dass dies nicht einfach war. Konflikte haben mir immer schreckliche Kopschmerzen bereitet. Außerdem bietet keines der Videos vollständige Informationen an. Jedes behandelt nur ein konkretes Thema: HAARP, die ökonomische Krise, der Krieg, wirtschaftliche und politische Lobbies... Erst nachdem ich mich durch ungefähr vierzig Videos gekämpft habe, habe ich verstanden, dass ihnen allen ein und die selbe Idee gemeinsam ist.  Du kannst Dir nicht vorstellen, wie anstrengend es ist, eine solche Synthese davon zu machen.

Alle Verschwörungstheorien laufen auf die eine oder andere Weise auf die Ankündigung des Endes der Menschheit hinaus. Es ist merkwürdig, dass keine dieser Theorien zur Zusammenarbeit auf kleiner Ebene auffordert, um Korruption und Unwissenheit zu bekämpfen. Keines dieser Videos zeigt, dass es besser wäre, den Computer und den Fernseher abzuschalten und statt dessen  Mathematik und Physik zu lernen, Bücher zu lesen oder Musik zu spielen. Kurz gesagt: Keines der Videos spricht eine Alternative an. Noch nicht einmal eine kleine Hoffnung.

Unterschwellig rufen solche Videos zu Revolutionen auf. Aber Revolution gegen wem?  frage ich mich in meinen Naivität. Gegen Gespenster? Gegen das System? So viel Lärm, nur um zu sagen, dass Banker diebe sind, ist nichts Neues. Doña Rosarios Mann hat auch gesagt, dass die Politiker alle die selben Hunde seien,  nur mit verschiedenen Halsketten.  Als ihm während des Spanischen Bürgerkriegs auf Grund einer willkürlichen Anordnung seine Hühner enteignet werden sollten, hat er nicht die Weltrevolution angerufen, sondern pragmatische Maßnahme getroffen. Nur die Hühne, nicht die Obrigkeit hat er getötet. Er hat sie in einem großen Tonkrug mit Öl haltbar eingelegt. Dann hat er ihn in einem Erdloch vergraben. Sogar Zeit, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, hat er noch gehabt.

Die Verschwörungtheorien behaupten, dass wir am Ende seien. Als ob das Ende das Ende eines Filmes wäre, das unvermeidlich nach ungefähr zwei Stunde komme.

Alle diese Videos warnen vor Vernichtung und Versklavung der Menschheit. Keines jedoch spricht von den Sklavelöhnen, die in meinem Dorf  während der Erdbeerernte gezahlt werden.

Alles diese Video prophezeien ein katastrophales Ende und sprechen von unbesiegbaren Eliten, von denen nur wenige Namen bekannt sind.

Aber keiner der Verschwörungsanalysten, die uns vor dem Ende warnen, übermitteln uns die Botschaft: „Spielen Sie nicht Computerspiele, versuchen Sie, gute Literatur zu lesen. Entwickeln Sie die Fähigkeit, sich selbst zu amüsieren ohne äußere Anreize. Halten Sie sich nicht für Genies und wagen  Sie zu lernen.“

Ich weiß es nicht, ob diese Verschwörungstheorien wahr oder falsch sind. Ich hoffe, ehrlich gesagt, dass sie sich irren. Mir ist klar, dass die Identität der Schuldigen zu kennen noch lange nicht bedeutet, sie besiegen zu können.

In meinem Dorf wissen wir alle wer die Mafiosi sind, aber das hilft nicht viel. Höchstens um den Mund zu halten, wenn sie in die Bar kommen. Ich muss zugeben, dass mein Dorf immer ein sehr ruhiges Dorf gewesen ist. Leben und leben lassen war unser Motto. Jede kennt jeden und weiß, mit wem er etwas zu tun haben will und mit wem nicht.

Seit einer Woche schlafe ich nicht mehr gut. Die außerirdischen Invasionen und die Engels- und Teufelsgeschichten nach Machart von Science-fiction Filmen sind jedoch nicht die Ursache meiner Schlaflosigkeit. Noch nicht mal die Neue Weltordnung oder die Möglichkeit eines Krieges sind der Grund dafür.

Was mich nicht schlafen lässt und dazu bewegt hat, alle meine Freunde und Bekannte anzurufen, ist, dass ich bemerkt habe, wie viele Leute es gibt, die den Untergang der Welt als unumgänglich erwarten.

Die Fragen nach dem Sinn meines Lebens, meiner Existenz, meiner Ziele haben sich in Fragen nach dem Sinn der Menschheit, ihrer Existenzes und Zukunft umgewandelt.

Um ehrlich zu sein, ich fühle mich nicht in der Lage, so viele und komplexe Fragen zu beantworten. Ich habe schon genügend Probleme mit mir selbst.

Ich hoffe, dass Du mir so bald wie möglich antwortest.

Herzliche Grüße!

Deine

Carlota

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Ich habe Carlotas Brief mehrere Male gelesen. Ich habe mir auch etliche dieser Videos angesehen. Ich gebe meiner Freundin Recht, dass viele dieser Analysen sehr gut strukturiert und dokumentiert sind. Sie verdienen als investigativer Journalismus statt bloß als Verschwörungstheorien gewürdigt zu werden. Die Unterscheidung ist aber immer schwierig. Was das eine vom anderen trennt, ist in der Regel eine schwache graue Linie.

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 Ich bin auf die Terrasse hinaus gegangen und habe mich von der Sternennacht umarmen lassen. Es sieht nicht so aus, als würde ein Meteorit in der nächsten Zeit unseren Planeten zerstören. Aber wie Hume sagen würde, die Tatsache, dass es noch nicht passiert ist, bedeutet nicht, dass es nicht morgen passieren kann.

Ein unruhiges Gefühl hat mich befallen.

Plötzlich kam mir der letzte Teil des „Candide“ von Voltaire in den Sinn und funkelte glänzend in der Nacht.

In Konstantinopel sind einige Wesire Unruhen zum Opfer gefallen. Candide fragt einen alten Türken, was vorgefallen sei. Der Türke antwortet, dass er nichts davon wisse und auch nichts davon wissen wolle. Er vermutet, dass Leute, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen einen gewalttätigen Tod fänden, und zwar zu Recht. Was in Konstantinopel vorgehe, interessiere ihn nicht. Der Türke erzählt, dass er sich nur um sein Ackerland kümmere, das er zusammen mit seinen Kindern bearbeite. Die Arbeit halte ihnen von drei großen Übel fern: Langweile, Laster und Not. Candide  merkt, dass diese Einstellung intelligenter  als diejenige der Könige ist. Größe sei gefährlich.

Candide und sein Freund Martin denken an ihre Garten. Martin meint, dass Arbeit ein Mittel sei, um an nichts zu denken. So werde das Leben erträglicher.

Die kleine Gesellschaft applaudiert dieser Idee. Der Garten auch wenn er klein ist, gibt genügend Früchte für sie alle.

Gleichzeitig bringt jeder von ihnen seine Talente ein, die für die Gruppe nützlich sind. Als Pangloss, ein anderes Mitglied der Gruppe, zu philosophieren anfängt, erinnert ihn Candide daran, dass sie sich zuerst um ihren Garten kümmern müssen.

Tatsächlich befreit uns die Arbeit von den großen Übeln. Sie hält uns auch von den öffentliche Angelegenheiten fern, die maßlose Proportionen angenommen haben.

Was in Spanien in den letzten Jahrzehnten passiert ist, hat keinen Sinn. Die Freude der Arbeitnehmer,  frühverrentet zu werden zu gehen sowie die Freude der Landwirte Subventionen zu bekommen, wenn sie ihrer Ackerland nicht bebauen.

Soll ich dahinter eine bestimmte politische Verschwörung vermuten?

Es ist ärgerlich, dass Landwirte, die seit Jahrhunderten Ackerland besaßen, dies nur verkauften, um sich eine Wohnung in der Stadt leisten zu können. Sie sind lieber Arbeitnehmer geworden als Landbesitzer zu bleiben. Selbst wenn die Mechanisierung die Landarbeit einfacher gemacht hat.

Ich kann nicht verstehen, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit weder die Jungen noch ihre Eltern auf die Idee kommen, aufs Land zurück zu kehren. Dort könnten sie eine landwirtschaftliche Kooperative gründen. In Krisenzeiten ist das Überleben schon etwas. Man spricht gerne von Unternehmengründungen, weil sie Produkte schaffen. Aber wenn jemand auf die Landwirtschaft als Unternehmen aufmerksam macht, wird er als rückständiger Höhlenmensch angesehen.

Gewiss lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Mit der vorherigen Haltung aber vergisst man, dass der Mensch ist was er isst, und dass er nur existieren kann, wenn er etwas isst.

Neben der Arbeit weist Voltaire auf ein zweites Elemente hin: die kleine Gesellschaft. Sie ermöglicht ein gutes Leben.

Es geht dabei nicht darum,  isolierte Gesellschaften zu errichten. Genau so wenig wie Individualismus nicht als Synonym für Isolation missverstanden werden darf. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass der Mensch sich nicht in der Unendlichkeit entwickeln kann.  Wie mein Freund Jorge Iranzo sagt: „Das Große lässt dich den Maßstab der Größe verlieren. Das Riesenhafte führt dazu, dass du dich verlierst.“

Die menschliche Gesellschaft hat nur Sinn, wenn sie in kleinen Strukturen arbeitet. Nur so können Freiheit und Sicherheit gleichzeit existieren. Dass solche Gruppen untereinander in Verbindung sind, ist selbstverständlich. Wichtig ist aber, dass das Individuum einen Ausgangspunkt hat. Einen solchen Ausgangspunkt zu akzeptieren, gegen ihn zu kämpfen oder ihn zu verlassen, gehört zu den privaten Entscheidung eines jeden Menschen.

Wenn die Mitglieder einer kleinen Gesellschaft ihre eigene Gesetzte nicht respektieren,  ist es unmöglich, sie gegenüber anderen Gesellschaften zu verteidigen.

Gerade dieses ist eines der zentralen Themen eines des besten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. „Brodecks Bericht“  von Philippe Claudel. Der Schrifsteller benutzt das Motiv der deutschen Besatzung um zu beweisen, dass Bosheit und Gewalt nur mit Mitwirkung der Gesellschaft selbst in sie hineintreten können. Der Wunsch später alles zu vergessen, als ob nichts geschehen wäre, produziert nur neue Gewalt. Jedoch verschwinden die alte Untaten verschwinden nicht. Wie mein Freund Carlos Saldaña sagen würde: „Die Realität zu verneinen, verändert sie nicht“.

Troia selbst öffnete seinen Feinden die Tore.

Ich finde das Mißtrauen gegenüber globalen Strukturen berechtigt. Trotzdem wäre es vielleicht besser, wenn die Bewohner aus Carlotas Dorf untersuchen wurden, warum der Bürgermeister dem verlustbringenden Unternehmen seines Sohnes eine Beihilfe bewilligt hat. Es wäre nicht schlecht die richtige Maßnahme adoptieren. Das Problem ist, dass es manchmal einfacher ist, gegen einen fremden Tyrannen zu kämpfen ist als gegen den Tyrannen, der vor uns steht.

Die Erklärung für solche Passivität liegt nach Carlota Meinung in der aktuellen Arbeitlosigkeit.  Alle hoffen eine Arbeitstelle in dem Unternehmen des Bürgermeistersohns haben zu können. Deshalb schweigen sie. Jetzt schweigen sie alle. Wenn eines Tages jemand schimpft, werden sie alle auch mit ihm zusammen schimpfen. Philipp Claudel schreibt auch darüber. An einer sehr  beeindruckenden Stelle des Buches  gesteht Brodeck – die Hauptfigur -, dass er die Massen meide, weil von ihnen das Übel käme.

Die Masse – sagt Brodeck – sei ein Monster, das aus tausenden Gesichtern gemacht worden sei. Es gebe keine fröhliche, keine friedfertige  Masse.  Hinter dem Lächeln sei immer hitziges Blut.

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 Ich habe Carlota geantwortet. Sie solle die ganzen Videos vergessen und falls sie Lust darauf habe, sich in die Welt einzumischen, erst die Mafiosi ihres Dorfes vorknöpfen. Mein Rat aber wäre, dass sie sich lieber einen Garten anschaffe und ihn pflege. Ich weiß nicht, ob ich sie vor einem  „burn out“ hätte warnen sollen.

Letztlich habe ich ihr nichts gesagt. Ich glaube nicht, dass sie in Gefahr ist.

Bis zur nächsten Woche!

Isabel Viñado Gascón