Sonntag, 23. September 2012

Der Vicomte von Bragelonne (1847) (Band I) Alexander Dumas


Dies ist der dritte Roman der Trilogie über die Abenteuer von D’Artagnan und seinen Freunden. Der erste ist der bekannte Roman „Die drei Mosquetiere“; der zweite „Zwanzig Jahre später“ und der letzte „Der Vicomte von Bragelonne“. Dort erzählt Dumas die Geschehnisse, die sich elf Jahre nach den letzten Abenteuern ereignen.

Obwohl ich bis jetzt nur den ersten Band des „Vicomte“ gelesen habe (in meiner französischen Ausgabe gibt es drei Bände), konnte ich der Versuchung darüber einen Artikel zu schreiben nicht widerstehen, weil sein Inhalt so interessant war.

Wie in den anderen Werken dient die Geschichte als Rahmen für die Entwicklung der Handlung. Deshalb kann man sie sehr wohl als „historischen Roman“ bezeichnen. Die literarische Genialität von Dumas übertrifft aber diese Einordnung. Nicht nur, dass Dumas über eine absolute Beherrschung der Feder und der französischen Geschichte verfügt; er ist auch ein Kenner der menschlichen Seele. Er weiß, dass im Leben nicht alles Gewalt, Sex und Liebe ist. Ihm ist auch bewusst, dass die Gesellschaft nicht zwischen den „Guten“ und  den „Bösen” aufgeteilt ist. Das sind die üblichen Kunstgriffe, die heutzutage die sogennanten „historischen Romane“ benutzen, um mehr Bücher zu verkaufen. Als ob die Kategorie „Best Seller“ allein schon ein Kennzeichen für Qualität wäre.

Die meisten historischen Romane werden heute nach den gleichen Schemata geschrieben. Der Leser bekommt den Eindruck, dass er nur Variationen über das selbe Thema liest. Das einzige, was sie unterscheidet, ist die historische Zeit, in welcher die Handlung statt findet. Die Zutaten sind immer die gleichen: eine unendliche Folge von Ereignisse, die zur keiner Reflexion einladen. Sie bieten nur gefühlsduselige Dialoge an, geschrieben in einem banalen, alltäglichen Stil.

Ganz anders bei Dumas: Seine Hauptfiguren zeigen in ihren Dialogen ihre scharfe und feine Intelligenz, die lebensnotwendig ist. Nur mit ihr können sie nicht nur auf dem Schlachtfeld,  sondern auch auf dem stets gefährlichen Terrain des Hofes überleben.

Dumas weigert sich, irgendeinem trivialen romantischen Historizismus zu verfallen. Er will die vergangenen Zeiten nicht als Vollendung oder Tiefpunkt der Menschheit  - entweder wegen ihres Glanzes oder wegen ihrer Barbarei - präsentieren.

Die Absicht des französischen Autors ist eine ganz andere. Sein Ziel ist es, den Lesern zu zeigen, dass in jeder Epoche die selben Leidenschaften und die selben Interessen herrschen.

Welches Interesse überlebt für Dumas die Zeiten? Ohne Zweifel das ökonomische, weil es Macht verleiht. Und dieses Thema ist auch der rote Faden im Buch. In der Tat: Dumas Roman konstatiert, dass Geld beziehungsweise Geldnot nicht nur das Volk, sondern auch den Mächtigsten besorgt. Louis XIV, der dem enttrohnten Charles II helfen möchte, kann das nicht tun. Ihm fehlen das Geld und die Macht; beides in diesen Momenten in Mazarins Händen.

Kardinal Mazarin seinerseits liegt in seinem Sterbebett stärker in Sorge um die 40 Millionen  Franken, die er als Erbschaft seiner Familie hinterlassen will, als um die Sterbesakramente.

Anna von Österreich muss plötzlich das Zimmer ihres langjährigen Freundes ohne ein Wort verlassen, um ihre Wut zu verbergen. Sie hat bemerkt, dass Mazarin eine Strategie entwickelt hat, damit ihr Sohn, der unerfahrene Louis XIV, auf die 40 Millionen freiwillig verzichtet, was jener auch tut. Mazarins Plan hat funktioniert. Ihr Verhalten zu dem Sterbenden wird nicht mehr das selbe sein wie früher.

D’Artagnan verzichtet auf seine Stelle, weil ihm dreißig Jahre treue Dienste weder Vermögen noch Ehre eingebracht haben. Er beschließt, Charles II zu helfen, damit dieser seinen Thron zurückgewinnen kann. Es bewegt D’Artagnan keine politische Überzeugung, sondern einfach der Wunsch, endlich ein Vermögen zu bekommen.

Die letzten Ratschläge Mazarins an den jungen Louis XIV haben vor allem mit der Wirtschaft zu tun. Der König soll auf einen Premierminister verzichten und Colbert als Finanzminister ernennen. Allein diese Ratschläge sind nach Dumas Meinung schon 40 Millionen Franken wert.

Als Louis XIV, die Zügel der Regierung übernimmt, kümmert er sich als erstes um die leeren Staatskassen. Der bisherige Finanzminister Fouquet hatte die königlichen Geldschränke geplündert. Ihn zu entlassen ist allerdings keine leichte Aufgabe. Er hat sich alles angeignet, was ihn zu einem der mächtigsten Männer in Frankreich gemacht hat. Bei Louis XIV Regierungsantritt unternimmt Fouquet den Bau einer der modernsten Festungsanlagen seiner Zeit. Den Verdacht, dass dies die Vorbereitung einen Putsches bedeutet, kann man nicht ausschließen.

Unterstützt Dumas Buch den Merkantilismus? Nein, er hebt lediglich die Bedeutung des Geldes auf die menschlichen Angelegenheiten und folglich auch auf die historischen Bedingungen hervor. Trotzdem lässt Dumas erahnen, dass das Reichtum ohne Intelligenz nutzlos ist. Die Glückspieler wie Malicorne enden mit dem, was sie am Leibe tragen, ganz gleich, was sie gewonnen haben.

Jedes Vermögen erfordert dreierlei: es zu erwerben, es zu erhalten und es zu vergrössern. Der französischen Schrifsteller betönt immer wieder, welche Anstrengungen hierfür nötig sind. Vor allem, wenn es sich um den Erhalt handelt.

D’Artagnan weiß es. Er hat Charles II geholfen, seinen Thron zurück zu gewinnen. Kaum hat er seine Belohnung bekommen, ist seine erste Sorge wie er vehindern kann ausgeraubt zu werden.

Fouquet seinerseits benützt alle möglichen Mittel, um sein Vermögen und seine Amt zu behalten. Er versucht zwei seiner Freunde, aus den Fängen der Justiz zu retten. Ihm ist bewusst, wie wichtig beide sind, um seine eigenen Interessen zu schützen.

Die Armen stehlen Geld. Die Reichen fordern es ein. Der erste Band des „Der Vicomte von Bragelonne“ zeigt ein Spiel, auf dessen Spielfeld nicht nur ein Ball, sondern mehrere Bälle in Bewegung sind. Alle Bälle sind mit Reichtum ausgefüllt. Jede Spieler verfolgt einen Ball, während gleichzeitig zu verhindern versucht, dass ein anderer Spieler ihm den Ball wegnimmt. Jeder Spieler hat aber darauf zu achten, dass die Wurfbahn eines jeden Balls von verschieden Prinzipien und Interessen bestimmt wird. Deshalb ist es für jeden Spieler ratsam,  zunächst stehen zu bleiben und zu überlegen, wer diese Bälle in Bewegung gesetzt hat und warum, bevor er den Bällen hinterher rennt. Nur so kann der Spieler entscheiden, welche Bälle als Ziele in Betracht kommen und welche ignoriert werden sollen, auch wenn sie vor unseren Nasen herum tanzen.

Das ist der Grund, warum D’Artagnan einen seiner Söldner auffordert Mann mit Prinzipien zu sein. Nach einem Jahr soll er D’Artagnan besuchen, damit dieser ihm eine gute Anstellung anbieten kann. D’Artagnan hat vor, diesen Mann aus dubiosen und mafiösen Geschäften zu entfernen. Es kann sein, dass sie große Gewinne verschaffen. Gleichzeitig aber treiben sie unerbittlich in Ruin und Ehrlosigkeit.

Der Gewinner ist der Spieler, der am Ende des Spieles die meisten Bälle angesammelt hat. Leider bedeutet das Ende des Spieles aber auch, dass das Leben des Spielers ans Ende gekommen ist.

Sind alle Menschen geldsüchtig? Gibt es nicht wenigstens einen, dessen Verhalten durch edle Ideale wie Freundsachft und Ehre gekennzeichnet ist? Ohne Zweifel, es gibt sie.

Athos symbolisiert diesen Menschentypus. Seine Handlungen entspringen aus der Ehre. Aber Dumas lässt keinen Raum für Illusionen.

Neben seinem größzugigen Herzen, erfüllt Athos zwei weitere Erfordernisse: Einerseits besitzt er einen Adelstitel und ausreichende ökonomische Mittel. Andererseits muss sein Vermögen keine Bedrohung fürchten. 

Ein anderes Beispiel ist Planchet, der ehemalige Diener D’Artagnans. Seine Anhänglichkeit an seinen früheren Herrn kennt keine Grenzen. D’Artagnan erzählt ihm, dass seine abenteuerliche Unternehmen mit Charles II keinen Erfolg gehabt hätte. Sie beide seien ruiniert. Planchet akzeptiert die Nachricht mit Gelassenheit. Er bietet D’Artagnan sogar Hilfe an. Der alte Musketier hatte indes nur gescherzt. In Wirklichkeit bringt er einen beträchtlichen Gewinn aus England mit. D’Artagnan kann seine Überraschung nicht verstecken. Die Großzügigkeit seines Freundes verwundert ihn. Er kann die Reaktion seines früheren Dieners kaum glauben.

Bedeutet dies, dass Freundschaft nicht existiert? Die Freundschaft, wie das Beispiel von Planchet zeigt, existiert, aber das ist ungewöhnlich.

Im Allgemeinen herrscht auch in der Freundschaft – wie man an dem Treffen zwischen Aramis und D’Artagnan beobachten kann – der Schutz der jeweiligen eigenen Interessen.

Was die romantische Liebe angeht, so reserviert Dumas sie für die naive Jugend, die noch nicht genügend Lebenserfahrung hat. Athos insistiert, dass der junge Raul seine Kräfte in Arbeit und militärische Aktivitäten investiere statt sich seiner Geliebte zu widmen.

Nach Dumas sind wir alle durch ökonomische Interessen geleitet. Allerdings entspringen sie durchaus auf verschiedenen Gedankenströmungen, Ideen und politischen Auffassungen.  Deshalb muss man die kritische Urteilskraft aktivieren, um zu bestimmen, welche Ziele  die ökonomischen Interessen verfolgen.

Auch die Ehrlichkeit - wenigstens mit sich selbst – ist unentbehrlich, um billige Gefühlsduselein zu vermeiden. Denn sie verhüllen in der Regel Projekte, deren Ziel nur  in der Erlangung des eigenen Nutzens besteht.

Die Große von Dumas beruht  nicht nur auf der Fähigkeit, den Leser zu unterhalten. Das ist zweifellos eines seiner größten Talente.  Das Haupterbe jedoch, das er dem Leser hinterlassen hat, sind seine Ratschläge für das Leben. Vor allem das gesunde Misstrauen gegen die Romantik in all ihren Erscheinungen. Die Liebe ist etwas für die Jungen bis zu einem bestimmten Alter. Danach treibt der Glaube an die Liebe – ganz gleich welcher Art von Liebe – entweder zum Tod oder zur Heuchlerei, die mit der Zeit niemanden  mehr überzeugen kann.

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Nie haben die Liebe, die Freundschaft und die Solidarität so viele Seiten gefüllt wie heutzutage. Sie bilden den Kern vieler historischer Romane, Filme und „Reality-Shows“. Die Struktur ist immer dieselbe: Die Bösen wollen mehr Geld und Macht. Die Guten kämpfen um edle Prinzipien, ohne eine Belohnung dafür zu erwarten.

Obwohl die universelle Solidarität gepredigt wird, erreicht der Individualismus beunruhigenden Proportionen. Man ermuntert zu Freundschaft und Brüderlichkeit zwischen allen Menschen und trotzdem ist die Gesellschaft heute gespaltener als früher. Die Liebesheirat und die vorehelichen Beziehungen sind beide wichtige Eroberungen der Modernität. Trotzdem steigt die Zahl der Scheidungen. Das ist nicht weiter schlimm: Viele Kinderpsychiater und Psychologen verdienen gut daran. Die Großeltern amüsieren sich, bis die Politiker von Generationensolidarität zu sprechen beginnen. Das kann nur die Kürzung ihrer wohl verdienten Renten bedeuten. Gutsituierte Eltern lassen ihre Kinder unter der Aufsicht von Kindermädchen, während sie ihr Sozialleben pflegen. Beim Treffen mit Freunden nerven sie die anderen Anwesenden mit ihren ständigen Liebeserklärungen an ihren Nachwuchs. Den Umstand, dass sie nicht bei ihren Kindern, sondern dort sind, rechtfertigen sie überzeugt mit dem abgedroschen Satz, dass „Qualität des Zusammenseins mit ihren Kindern besser als die Quantität“ sei.

Damit vergessen sie einiges: Erstens, dass sich die Begriffe Qualität und Quantität nicht gegenseitig ausschließen. Deshalb darf man nicht von Qualität oder Quantität sprechen, sondern von Qualität und Quantität. Zweitens, dass solche Begriffe nicht in den Bereich der Erziehung gehören. „Qualität“ und „Quantität“ sind eigentlich Vokabeln, die den Bereich des Konsums entsprechen. Und der Konsum ist - wie wir alle wissen - eines der Phänomene, das durch Emotionen am leichtesten manipulierbar ist.

Wenn die elterliche Liebe auf den Faktoren „Qualität“ und „Quantität“ beruht, verwandelt sich die Liebe in „Konsum“-Liebe.

US-amerikanische Filme über Kinder sind Meister in der Nutzung und Ausnutzung der Emotionalität. In ihnen sieht man stets trostlose Kinder weinen - vor allem an ihren Geburtstagen. Entweder weil ihr Vater wegen seiner Arbeit nicht an ihrem Geburstagfeier zugegen ist –auch wenn sie ein sehr teures Fahrrad von ihm geschenkt bekommen haben. Oder sie weinen, auch wenn ihr arbeitloser Vater  einen selbstgebackenen Kuchen und tolle Spiele für ihre Party vorbereitet hat, weil sie kein Fahrrad geschenkt bekommen haben.

Alle diese „Emotionslawinen“ – die Remarque „Wortlawinen“nannte, um jedwede Propaganda in einem Wort zusammenfassen - haben als Ziel, die Vernunft in den Hintergrund zu verbannen.

Gerade dagegen richten sich die Romane des franzosischen Autors.

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Noch einmal ist es nötig,  an die Werte der Aufklärung zu appellieren. Ihre Anstrengungen –ganz in Gegenteil zu dem, was viele uns glauben machen wollen - sind nicht an der Transformation der Vernunft in nur instrumentelle Vernunft gescheitert. Die Aufklärung - und mit ihr eine ganze Lebensauffasung - ist einer grillenhaften Romantik zum Opfer gefallen. Diese Romantik hat die Erfolge der Aufklärung zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt.

Die beiden Weltkriege und die Schrecken, die sie verursacht haben, zeigen nicht die Unwirksamkeit der Vernunft. Was sie eigentlich beweisen, ist die destruktive Kraft der Romantik.

Auch große Denker und Schrifsteller –wie Nietzsche, Marx und Brecht – waren schärfste Kritiker der Romantik.

Trotzdem bleiben die meisten lieber bei der theorie, dass der Missbrauch der instrumentellen Vernunft diese Zerstörungen verursacht habe,  als sich zu fragen, wer sie so verderblich benutzt hat und warum. Einige Namen in den Geschichtsbüchern zu sammeln oder ein paar politische Gründe zu geben, kann nicht die wichtigsten Fragen beantworten.

Die Wahrheit ist, dass es die Romantik war, die sich die Aufklärung  angeeignet hat. Die Romantik war es auch, die sie missbraucht hat. Die Romantik in der Politik hat den europäischen Kontinent verwüstet. Die Romantik erlaubte den Vätern, ihre Söhne als Freiwillige in den Krieg zu schicken. Die Gründe hierfür waren romantische Gründe: Vaterland, Flagge, Ehre und Rasse in Deutschland, Kirche und Vaterland in Spanien. Als ob all diese Begriffe Verteidiger bräuchten. Nur eine Flagge konnte die Romantik nicht aufrichten: diejenige der Vernunft.

Statt dessen nutzte sie die Erfolge der instrumentellen Vernunft wie die Piraten ihre Beute für Rum ausgeben.

Auch später hat sich die Romantik in den soziale Ereignissen weiter eingenistet. Den Staat der Egalität und Chancengleichheit aus der Aufklärung hat die Romantik in eine hedonistische  Freizeitgesellschaft umgewandelt. Wenn Brecht das sehen würde!!

Dumas und andere französische Schriftsteller zeigen uns, dass weder große Worten noch Gefühlsduseleien die Welt bewegen können. Nicht einmal die Sentimentalität kann es. Im Gegenteil: Der Überschuss an Emotionen zerstört die Gesellschaften und lässt sie versinken.

Es ist besser, von verschiedenen Interessen zu sprechen. Diese Interessen können auch aus romantischen Emotionen enstehen. Die wichtigste von allen ist übermäßige Ambition. Um Erfolg zu haben, benutzt diese die Demagogie. Sie nutzt Worte wie Angst, Mitgefühl, Armut oder Sklaverei so oft wie es notwendig ist, um ihre Ziele zu erreichen. Am Ende ruiniert sie nicht nur die Individuen, sondern sogar ganze Gesellschaften.

Wie Colbert Louis XIV zeigt: Mit Gefühlsduseleien kann man nicht gut regieren. Eigentlich brauchte der König diesen Rat nicht. Er selbst hatte erst vor Kurzem zugunsten des Thrones auf seine Jugendliebe verzichtet. Das war keine unangemessene Ambition. Das war sein Recht und gleichzeitig seine Pflicht.

Sentimentalitäten und  Zynismus sind übliche Ressourcen in den Medien, damit sie mehr Zuschauer gewinnen. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt. Es ist aber wichtig, dass wir merken, was darunter liegt: Frustration, Ressentiment, und vor allem der Verlust des Vertrauens in den anderen  und sogar – wenn Sie es mir erlauben - in die Menschheit sowie der Verlust der Lust am Leben zu sein. All das endet in geistiger Passivität, Apathie und Gestaltlosigkeit, sogar wenn alle materiellen Mittel vorhanden sind.

Dumas zeigt, dass es nur zwei Schlüssel gibt, diese Situation zu überwinden: Die Entwicklung der Intelligenz und die Entwicklung einer rationalen Lebensstrategie. Mich stört nicht, wenn die Vernunft  die  Emotionen kontrolliert. Was mich stört, ist, wenn das Gegenteil der Fall ist. Es ist Zeit, dass wir aufhören ewige Pubertierende zu sein. Wir müssen lernen uns selbst zu regieren.

  Bis zur nächsten Woche!
Isabel Viñado Gascón


 
 



 

 

 

 

 

Sonntag, 16. September 2012

FRAU UND MUTTERSCHAFT (2010) Isabel Viñado Gascón


In ihrem Buch „Ein eigenes Zimmer“ behauptet Virgina Woolf, dass die Armut die soziale und intellektuelle Entwicklung eines Menschen verhindert.

Nach ihrer Meinung liegt die Ursache für die Ungleichheit zwischen den beiden Geschlechtern in der traditionellen Geldknappheit der Frauen. Die Gründe für die Armut der Frauen erklärt sie nicht. Sie nennt die Mutterschaft und die Kinderpflege als mögliche Gründe, aber sie vertieft dieses Thema nicht weiter. Statt dessen kümmert sie sich um die Kreativität, weil dies eigentlich der Kern ihres Interesses ist.

Sie ist nicht die einzige, die für das Problem der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Frauenarbeit zu keinem Ergebnis kommt. Weder die traditionalistischen, noch die zeitgenössischen Feministinnen haben eine befriedigende Lösung gefunden.

Am Anfang des Feminismus war die Kinderlosigkeit die Lösung. In der Gegenwart sieht es nicht so aus, dass die Frau – stolz auf ihre Weiblichkeit-  sich wünscht, auf Kinder zu verzichten.

So taucht das Bedürfnis nach einem neuen Feminismus auf, der - wie schon Virginia Woolf postulierte - der Frau das Frausein erlaubt. Das schließt die Möglichkeit der Mutterschaft ein. Man soll eine individuelle Entscheidung treffen, die akzeptiert sein muss.

Der Gesellschaft ist bewusst wie wichtig dieses Thema für ihre eigene ökonomische und kulturelle Entwicklung ist. Deshalb schlägt sie ständig verschiedenen Lösungen vor, um den Konflikt zwischen Arbeit und Mutterschaft zu entschärfen.

Der größte Haken ist, dass die Kinder unter der Aufssicht anderer Leute bleiben müssen. Die richtige Person dafür zu finden, ist nicht einfach.

Die Großeltern, die einst eine wichtige Unterstützung waren, leben heutzutage entweder weit von ihren Kindern entfernt oder sie können sich nicht um alle Enkelkinder gleichzeitig kümmern.

Außerdem fühlen sie sich zu jung und kraftvoll. Sie wollen nicht auf das Vergnügen des Reisens und die Freiheiten verzichten, die für Senioren im Angebot sind.

Das heißt, dass einige Kinder zu Tagesmüttern, andere zum Kindergarten gebracht werden. Ihre Qualität hängt meistens vom monatlichen Beitrag ab. Andere bleiben zuhause bei der Putzfrau, die gleichzeitig auch das Kindermächen ist. Eine Erzieherin mit einer hohen pädagogischen Qualifikation bleibt – heute wie gestern - den wohlhabenden Kreisen vorbehalten.

 
Sobald die Kinder zur Schule gehen, bleiben sie entweder allein zuhause oder melden sich für verschiedene Aktivitäten ein, damit sie bis zur Rückkehr der Eltern beschäftig sind.

Wenn die Eltern nach Hause kommen,  sind sie zwei Erwachsene mit gutem Willen, aber erschöpft.

Trotzdem: Die Gesellschaft verlangt von ihnen, dass sie sich mit mehr Intensität als in der vorherigen Generationen um ihre Kinder kümmern.

Diese hohe Anforderung beschränkt sich nicht nur auf die Kindererziehung. Dasselbe gilt für den Haushalt oder die Beziehungen.

Dank der Elektrogeräte ist die Haushaltsarbeit einfacher geworden, aber die Ansprüche an Hygiene sind auch viel höher. Die persönlichen Bindungen beruhen nicht mehr auf der traditionellen Arbeitsteilung, sondern auf der Selbstverwirklichung eines jeden Partners. Das führt dazu, dass viele Paare sich trennen, sobald  sie keine voll befriedigende Beziehung mehr haben.

Dazu muss man hinzufügen, dass der Mangel an Arbeitsplätzen nicht selten erzwingt, eine Stelle an einem anderen Ort als dem Familienwohnsitz anzunehmen. Deshalb können viele Kinder ihre Väter oder Mütter nur am Wochenende sehen.

Alle diese Betrachtungen führen zu der Frage, ob jene Feministinnen, denen gegenüber Virginia Woolf so viel Abneigung fühlte, nicht viel realistischer waren als Woolf, wenn sie behaupteten, dass die Frauen auf ihre Weiblichkeit und vor allem auf ihre Mutterschaft verzichten müssten.

Die Probleme, die diese Themen stellen, haben keine einfache Lösung. Die Trennung zwischen Mann und Frau ruht in einem ersten Moment auf „der Möglichkeit des Werdens“.

Wie Virginia Woolf zeigt konnte der Mann studieren und verreisen, wann immer er wollte. Die Möglichkeiten der Frauen dagegen waren stark eingeschränkt, wenn nicht sogar annuliert.

Mit der Eroberung ihrer Freiheit stoßen wir in einem zweiten Moment auf das „Problem des Werdens“. Das „Ich“ tritt aus sich heraus und sich selbst gegenüber. Es verwandelt sich damit zu einem Ziel, das zu entwickeln ist. “Werden” bedeutet in diesem Sinn, sich mit seinem eigenen „Ich“ zu beschäftigen. Dieser Anspruch kollidiert allerdings mit dem Begriff der Mutterschaft, weil dort die Handlung des Werdens sich nicht nach einem „Ich“ , sondern nach einem „Du“ richtet.

Die aktuelle auf  Hedonismus und Selbstverwirklichung gegründete Gesellschaft macht es dem „Ich“ jedoch schwer, „aus sich heraus“ zu treten. Man kann nun behaupten, dass sich um ein „Du“ zu kümmern, es einschließt, das eigene „Ich“ zu entwickeln. Wir werden uns hiermit noch später befassen.  Die vorherrschende Meinung aber ist, dass Mütter, die sich zuhause um ihre eigenen Kinder kümmern, ihr Leben verlieren; nicht allerdings, wenn sie beruflich mit fremden Kinder zu tun haben: Kindererzieherin, Tagesmutter, Lehrerin, Kinderkrankenschwester und so weiter. Diesen Widerspruch könnten wir auf alle anderen beruflichen Felder erweitern.

Die Erklärung dafür ist in zwei Grundlagen unserer Gesellschaft zu finden. Nämlich das Streben des „Ichs“ nach Selbstverwirklichung und die ökonomische Unabhängigkeit, die dafür nötig ist.

Wie Virginia Woolf erwähnt hat ist Geld  das einzige Mittel, um Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.

Nach diesen Prinzipien wäre eine durchführbare Lösung, um Mutterschaft mit Arbeit zu harmonisieren: Die Frau soll sich erst als „Ich“ entwickeln. Später kann sie aus sich heraus treten, um sich um ein “Du“ zu kümmern.

Das klingt ziemlich vernünftig und viele sind damit einverstanden. Das einzige Hindernis ist aber, dass ein „Werden“ immer im ständigen Aufbau bleibt. Das macht es unmöglich, genau bestimmen zu können, wann ein „Ich“  so weit „geworden“ ist, dass es sich um ein „Du“ kümmern kann.

Wenn wir die akademische Arbeitskarriere als Parameter annehmen, wird es sehr wahrscheinlich nicht vor ihrem vierzigsten Geburtstag sein. In diesem Alter aber bemerken  viele Frauen verblüfft, dass sie Schwierigkeiten haben Mutter zu werden oder sie müssen ihre Karriere, Baby und Präklimakterium in Einklang bringen.

Die Frauen sind sich dieses Problemes bewusst. Jede - nach ihren eigenen persönlichen Kriterien – gibt darauf eine verschiede Antwort.

Wir könnten diese Antworten in drei Gruppen klassifizieren. Jeder dieser Gruppen verdient dabei den Respekt sowohl der übrigen Gesellschaft als auch der jeweils anderen beiden Gruppen.

Sehen wir uns also diese drei Gruppen und ihre Positionen an:

A.    RADIKALE FEMINISTINNEN

Darunter wollen wir die Frauen verstehen, die „den Akt des Werdens“ in seiner ganzen Radikalität und Vollkommenheit zu erreichen wünschen. Hier hinein gehörten in religiösen Epochen Nonnen und Hexen. In sekulären Zeiten sind es die traditionalistichen Feministinnen gewesen.

Sie alle charakterisiert, dass sie die üblichen Weiblichkeitsmerkmale drastisch ablehnten. Sie wollten in der von den Männer beherrschten Welt ihren Platz mit maskulinem Verhalten erobern.

Man kann ihre Radikalität und Kälte kritisieren, aber auf keinen Fall kann man sie als heuchlerisch oder inkonsequent bezeichnen. Auch sollte  nicht die wichtige Rolle bestritten werden, die sie in der Geschichte des Feminismus gespielt haben und auch heute immer noch spielen: Denn sie haben die Frauen auf ihre Fähigkeiten aufmerksam gemacht und  gleichzeitig auch dazu verpflichtet, diese Fähigkeiten zu entwicklen.

In unserer Gegenwart haben sich die Feministinnen auf zwei Strömungen verteilt: die Karrierenfrauen und die sogennanten „party girls“. Die ersten konzentrieren ihre Energien auf die Arbeit; die letzteren dagegen leben für den Moment, sie wollen keine festen Bindungen, die ihre Freiheit einschränken könnten. Sie pflegen ein „Ich“, das nur für den Augenblick eingerichtet ist und nur ihn genießt.

Viele halten die „party girls“ für die radikalsten Feministinnen,  weil sie ein Verhalten aufweisen, das traditionell für Männer, aber nicht für Frauen akzeptiert war.

 

B.     HARMONISIERUNG VON FEMINISMUS UND MUTTERSCHAFT

Die meisten Frauen wollten die gleichen Chancen wie die Männer, ohne dafür jedoch auf die Mutterschaft verzichten zu müssen. Dafür haben sie verschiedene Wege ausprobiert.

1.      Virginia Woolf  - selbst kinderlos - fand in der schöpferischen Tätigkeit die Art und Weise, beide Aspekten zu vereinbaren. Dank ihr könnten die Frauen Mutter werden und Geld verdienen. Leider hat sie vergessen, dass kreative Arbeit nur in ganz wenigen Fällen ein erwähnenswertes Einkommen bedeutet sowie, dass sie viel Anstrengung und Arbeitsdosis verlangt. Deshalb müssen viele Frauen auf die Kreativität verzichten – oder sie wenigstens den familiären Pflichten unterwerfen.

Anderseits gibt es viele Frauen, die ihre Erwerbsarbeit direkt nach der Entbindung wieder aufnehmen müssen.  Ihnen fehlen nämlich die ökonomischen Mittel, um zuhause zu bleiben und eine geeignete Kinderbetreuung zu bezahlen. Solche Frauen werden es deshalb kaum akzeptieren können, dass die Existenz des „Schöpfergeistes“ ihre Situation erträglicher macht.

 

2.      Andere Alternativen - wie Experimente mit Telearbeit – haben auch viele Nachteile bewiesen. Die Arbeitszeit kann sich für die Frauen zusammen mit der Kindererziehung und der Hausarbeit leicht  auf den ganzen Tag ausbreiten.  Anderseits haben sie auch nur limitierte Entwicklungsperspektiven in ihren Job, weil sie im Unternehmen weniger anwesend sind. Ein vergleichbares Schicksal erwartet diejenigen, die Teizeitstellen haben. Aktuelle Vorschläge lauten, dass die Männer zuhause bleiben, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Die meisten Väter bezeichnen diese Situation (un)verschämt als „kreative Pause“. Einen solchen Ausdruck benutzt man nicht, wenn die Frau diejenige ist, die zuhause bleibt. Das heißt, dass im Allgemeinen die Männer ihre Kinder nur betreuen, wenn die Zeit nicht länger als ein Jahr dauert, und wenn ihre Frauen weiter für die Haushaltorganisation verantwortlich sind.

 

3.      Die traditionellen Frauenberufe wie Lehrerinnen und Beamtinnen haben gezeigt, dass sie die am meisten geigneten sind, um Mutterschaft und Weiblichkeit zu ermöglichen.

 

Trotzdem teilen alle diese Arbeitsformen einen gemeinsamen Nenner: Sie bringen in der Regel niedrigere Löhne. Außerdem weisen Frauen häufig Leitungspositionen zurück, weil sie mehr Zeit für die Familie wollen.

Zu den Hindernissen, Mutterschaft und Arbeit zu vereinbaren, kommt der externe Druck der Gesellschaft hinzu, dass die Frauen nicht ihre Weiblichkeit verlieren.

Folglich  streben die Frauen gleichsam nach der Erlangung der Perfektion. Sie wollen eine aufregende Teilzeitstelle, damit sie sich als Personen verwirklichen können. Sie kämpfen für die idealen Körpermaße. Sie interessieren sich für die gute Literatur. Sie hören Vorträge, sie besuchen Museen und kulturelle Veranstaltungen.

Kurz: Sie halten sich im sozialen, sportlichen und sexuellen Leben aktiv. Gleichzeitig sind sie auch Haushaltsorganisatorinnen und Mütter. In unseren Tagen aber verpflichtet „Mutter zu sein“ nicht nur auf eine affektive Bindung mit dem Kind, sondern auch auf eine intensive Aufmerksamkeit auf die intellektuelle und soziale Kindesentwicklung. So müssen die Frauen den Kontakt mit den Erziehern und Lehrern pflegen, die Schulhausaufgaben kontrollieren und sich um den Musik- und Sportunterricht kümmern.

Das magische Schlüsselwort, um all das zu schaffen, was die Gesellschaft verlangt, lautet: Organisation.

Der Preis, den die Frauen für diese übermenschliche Überförderung bezahlen müssen, ist der „burn out“.

Damit fühlen sie sich wieder „schuldig“. Diesmal, weil sie ihre Kräfte nicht richtig gemessen haben. So versinken viele Frauen entweder in der Depression oder in der Selbsttäuschung.

 

C.    RADIKALE MUTTERSCHAFT

In dieser Gruppe finden sich so radikale Frauen wie in derjenigen der radikalen Feministinnen, auch wenn ihre Kriterien absolut entgegen gesetzt sind.

Die Frauen dieser Gruppe haben sich für die komplette Hingabe an ihre Familien entschieden. Das hat nichts mit Unterdrückung zu tun. Wohl bemerkt: Ich habe das Wort „entscheiden“ benutzt. Gerade die Freiheit, mit der sie ihre Entscheidung getroffen haben, charakterisiert diese Gruppe. Sie werden von vielen als rückschrittlich, von anderen als verrückt und nur von ganz wenigen als Heldinnen bezeichnet. Auf jeden Fall bilden sie eine Gruppe, die zur Minderheit geworden ist.

Es gibt gute Grunde dafür. Die Beziehungen zwischen Frauen und Männer sind nicht mehr „bis der Tod Euch scheidet“, sondern bis die Leidenschaft erstirbt. Die Arbeitswelt ist ungewisser geworden. Die Kindererziehung muss immer besser sein und folglich teurer. Und letztlich sind diese Frauen zu sozialer Einsamkeit verdammt, wenn nicht gar zu sozialer Ablehnung.

Dies bringt es mit sich, dass die Frauen immer weniger zuhause mit ihren Kindern bleiben können. Wenn sie sich trotz all dieser Schwierigkeiten dafür entscheiden, folgen sie einer persönlichen Berufung. Diese hat denselben Verpflichtungsgrad und dieselbe Intensität wie eine religiöse Berufung.

SCHULßFOLGERUNG

Die Frau, die heutzutage überlegt, Mutter zu werden, muss zuerst – einerlei ob als Karrierefrau, mit einer Teilzeitstelle oder als „Nur-Hausfrau“ – abwägen, wieviel Kraft sie hat.

Es gilt zu verhindern, dass die Frau überfördert ist. Das schadet nicht nur ihr selbst, sondern auch ihrer Familie und der Gesellschaft im Allgemeinen. Unabhängig davon, welche Option eine Frau wählt, ist es wichtig, sich bewußt zu sein, was Mutterschaft bedeutet:

a)      Eine Beschränkung der Entwicklung ihres eigenen „Werdens“.

b)      Mutterschaft ist immer tragisch. Einerseits treffen in der Mutterschaft zwei entgegen gesetzte Interessen aufeinander: Das Interesse eines schon existenten „Werdens“ und das Interesse eines „Werdens“, das gerade anfängt zu sein. Anderseits sind beide „Werden“ sind durch die absolute und tiefeste Liebe, die es geben kann, gebunden.

Meine Schlußfolgerung nach alle diesen Betrachtungen ist, dass Geld bei diesem Thema eine sehr wichtige Rolle spielt. Je besser die wirtschaftliche Situation eine Frau ist, desto mehr Chancen hat sie, Mutterschaft und Karriere zu harmonisieren.

Wie der große spanische Dichter Quevedo schon vor Virginia Woolf sagte:

 

„Ein mächtiger Edelmann ist Herr Geld“

 („Poderoso Caballero es Don Dinero“ )

Bis zur nächsten Woche!
Isabel Viñado-Gascón.