Dienstag, 19. Juni 2012

IM WESTEN NICHTS NEUES (1929) Erich María Remarque


Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, dass kaum ein anderer Schrifsteller die Atmosphäre einer ganzen Epoche so klar und präzis beschrieben hat wie Remarque. Remarque sucht keine Antwort. Seine Absicht ist es auch nicht, die Umbrüche zu analysieren, die das Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstört haben.

Das Charakteristische an Remarques Werk ist seine Menschlichkeit. Ihm ist bewußt, dass der Mensch nicht seinen eigenen Umstände enfliehen kann. Deshalb stellt er  die Situationen dar, die seine Haupfiguren erleben. Keine von ihnen ist ein Held. Sie sind alle normale Leute, deren Geschichten Teil der „Geschichte“  und deren Leben Teil des „Lebens“ sind. Jede von ihnen –und gleichzeitig alle zusammen - durchlaufen die beiden Weltkriege, die Zwischenkriegszeit, die Konzentrationslager und schließlich einige –aber nur einige- schaffen es sogar als Emigranten ins „Paradis“ zu gelangen, das für sie alle Amerika bedeutete.

Daher irrt, wer erwartet, dass „Im Westen nichts Neues“ ein epischer Roman ist. Was Remarque hier darlegt, sind die Grausamkeit des Krieges und die schreckenderregenden Konsequenzen, die er in der Gesellschaft verursacht, vor allem unter den Jungen, die an ihm teilnehmen.

„Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört vurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.“ –Schreibt Remarque zu Beginn seines Buches.

Der Roman beschreibt das Erlebnis einer Gruppe von Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs an der Westfront sind. Vier von ihnen, darunter der Erzähler Paul Bäumer, sind neunzehnjährige Jungen, die sich wegen der patriotischen Reden ihres Lehrers Kantorek zur Front gemeldet haben. In ihren Unterhaltungen versuchen sie ein Licht auf die Situation zu werfen, in der sie sich befinden. Keiner kann richtig verstehen, warum sie gegen Feinde kämpfen müssen, die sie nicht kennen und denen gegenüber sie auch keinen Grund für irgendeinen Streit haben.

„Weshalb ist dann überhaupt Krieg?“ fragt Tjaden.

(...)

„Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber“, sagt Albert. „Keiner will es eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt, die andern behaupten dasselbe –und trotzdem ist die halbe Welt feste dabei.“

Remarque beklagt sich genauso wie viele andere Schrifsteller seiner Zeit über die Lehrer und Erzieher dieser Generation. Sie haben das Vertrauen enttäuscht, das die Jugend in sie gesetz hat. Statt es zu nutzen, um ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen, haben sie es benutzt, um sie mit diesem Fieber anzustecken. Sie hatten ihnen verheimlicht, dass „Frankreich“, „Deutschland“,“Heimat“, „Staat“ und „Ehre“ nur „Hunger“, „Krankheit“, „Elend“, „Tod“ und „Zerstörung“ bedeuteten.

Nach Remarques Meinung war das wichtigste Merkmal seiner Generation ihr  Vertrauen in die alte Generation. Sie waren tief davon überzeugt, dass sich die Autorität ihre Erzieher auf  Wissen und Reflexion stützte. Die Jugend glaubte alles, was die Erwachsenen sagten. Die Figur des Lehrers Kantorek symbolisiert diese Idee.

Auch Brecht kritisiert die Propaganda, die Schüler von ihren Lehrern  ertragen mussten. Stephan Zweig berichtet in „Die Welt von Gestern“ von der Bewunderung, die die Jungen für die Erwachsenen empfanden. Sie bemühten sich ständig, ihre Gesten und Posen nachzuahmen. Der ungarische Schrifsteller, Zsigmond Moricz schrieb 1929 sein Theaterstück: „Mischi und das Kollegium“. Dort erzählt er die Geschichte eines Schülers, der  so früh wie möglich erwachsen sein wollte. Er glaubte, dass sie besser als seine Altersgenossen sind. Für ihn verkörperten sie Wahrheit, Verantwortung und Bildung. Seine Bewunderung verschwand allerdings, sobald er sie besser kennen lernte. Seine Ernüchterung löschte sein Vertrauen in die Menschheit aus.

Die Entäuschung, die diese Generation fühlte, als sie die Wirklichkeit entdeckte, stürtzte sie  in eine Lebenskrise, von der sie sich nie wieder erholt hat.

Remarque schenkt drei Aspekten besondere Aufmerksamkeit:

1.      Die Entfremdung.

Freundschaft und Kameradschaft erscheinen inmitten dieses Wahnsinns, in dieser Welt die versinkt, als das einzige, was wirklich ist. Darüber hinaus bleibt nichts übrig. Der Riss zwischen den Idealen der Gesellschaft, der sie entstammen, und ihrer eigenen Erfahrungen verursacht  die Entfremdung zwischen ihnen und der Gesellschaft.

Sie sind allein. Niemand –außer sie selbst-, kann sie verstehen. Ihre Eltern und Erzieher schreiben ihnen Briefe, die dieselbe Ansprache wie immer enthalten: die selben Phrasen und Floskeln, die selben hochtrabenden Worte. Der Bruch zwischen den Generationen ist unvermeidbar. Der ruhmreiche Krieg, den ihre Eltern beschreiben, ist nicht der abstoßende Krieg, den sie erleben. Die Gesellschaft ihrer Erzieher ist nicht mehr die Gesellschaft, in der sie werden leben können, wenn der Frieden kommt. Zwischen ihrer Welt und der Welt der Anderen haben sich Klüfte geöffnet, die vor dem Krieg undenkbar waren.

„Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich –ich glaube, wir sind verloren.“

Dieses Gefühl wird sich verstärken, sobald sie aus dem Krieg zurück kommen werden. Sie werden sich mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass die Gesellschaft zuhause sie ignoriert. Sie hat nicht an den kriegerischen Konflikten teilgenommen. Das alltägliche Leben läuft fort „als ob” nichts passiert wäre. Dieselben, die sie in den Kampf geschickt haben, behandeln sie, „als ob“ der Krieg nur eine bedeutunglose Episode gewesen wäre. Sie sind überzeugt, dass es immer noch möglich wäre, dass die auf Autorität und Gehorsam gegründete Beziehung zwischen ihnen weiter gelte.



2.       Die Kritik an den Worten.

Worte und Reden bedeuten nichts. Ihr einziges Ziel war es, die Jungen für den Krieg anzuwerben, um die Träume der alte Generation zu erfüllen.

Die Gesellschaft erinnert sich an sie wie sie damals in der Truppenparade marschierten: angekleidet mit  makellosen und glänzenden Uniformen. Sie will allerdings nicht die Fortsetzung mit bekommen. Sie will nicht wissen, dass sich ihre Jungen mit knapp zwanzig Jahren mit verkrüppelten Leichen, Hunger, Granaten und Gas auseinander setzen müssen.

„Die ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod: ist sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die in tagelangem Würgen die verbrannten Lungen stückweise auskotzen.“

Eine Generation hat ihre Kinder mit Hilfe der Worte geopfert. Mehr noch: Sie hat es geschafft, dass ihre Nachkommen sogar freiwillig zur Schlachtbank gehen. Eine ganze Generation hat das Vertrauen ausgenützt, das die Jugend in sie gesetzt hatte.

Erst an der Front werden die Opfer die schreckliche Wirklichheit erfahren. Die Worte, die sie ständig gehört und geglaubt haben, sind falsch. Die Worte dienten nur zum Herrschen. Paul zieht die Schlußfolgerung, dass es besser sei, den Worten keine Aufmersamkeit zu schenken.

„Worte, Worte, Worte –sie erreichen mich nicht.“ –Sagt Paul mit Bitterkeit.

Sie wussten nicht, dass die Worte keinen Sinn ergeben. Remarques Rache besteht darin, den Lehrer Kantorek in die selben Kompanie wie Paul zu schicken. Einer seiner früheren Schüler nutzt seinen höheren Rang, um sich über den alten Mann lustig zu machen.

Hier versinnbildlicht sich die Referenz- und Sinnlosigkeit der vorherigen Kultur. Der Fortschritt hat das Blutvergießen nicht verhindern können.

3.      Die Zukunft

„Was soll das bloß werden, wenn wir zurückkommen?“ Meint Müller, und selbst er ist betroffen.

Die jungen Soldaten machen sich Sorgen um die Schwierigkeiten, die sie antreffen werden, wenn der Krieg vorbei ist. Diejenigen, die schon vorher einen Beruf hatten, werden ihn weiter ausüben können. Paul ist sich aber bewußt, dass die Jungen in seinem Alter, die an der Front gewesen sind, nicht wieder die Schulbank drücken können. Sie sind zu alt, um zu lernen; zu alt, um zu gehorchen. Der Krieg hat ihnen entweder das Leben oder die Jugend geraubt.

Paul fragt sich wie sie sich wiedereingliedern werden können. Gerade als sie angefangen hatten zum Leben, mussten sie in den Krieg, um zu toten. Sie können nichts anderes als Granaten zu werfen.

Remarque ist nicht der einzige Schrifsteller, der der Gewalt und vor allem dem Krieg  ihren Gloriolenschein zu entziehen versucht. Solche Gloriendarstellung sind mehr für eine Operette  als für die Wirklichkeit geeignet.

 Brecht wiederholt in seine Gedichte, dass ein Toter ein Toter ist, wenn er über den Ersten Weltkrieg schreibt. Statt den Helden zu besingen, beschreibt er die zerstückelten Leichen.

Die Taten, die die Gesellschaf „heldenhaft“ nennt sind Remarques Meinung nach nicht anderes als ein krimineller Totschlag. In seinem Buch „Der Weg zurück“ wird er erklären, dass der Mörder wenigstens einen Grund zum Töten. Dagegen kennt der einfache Mann in einem Konflikt zwischen Staaten nicht die richtigen Gründe dafür, den Feind zu töten.

Eine Unterhaltung zwischen den jungen Soldaten verdeutlicht diesen Gedanken.

„Meistens so, dass ein Land ein anderes schwer beleidigt“, gibt Albert mit einer gewissen Überlegenheit zur Antwort.

Doch Tjaden stellt sich dickfellig. „Ein Land? Das verstehe ich nicht. Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen. Oder ein Fluss oder ein Wald oder ein Weizenfeld.“

„Bist du so dämlich oder tust du nur so?“ knurrt Kropp. „So meine ich das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere-„

„Dann habe ich hier nichts zu suchen“, erwidert Tjaden, ‚ich fühle mich nicht beleidigt.“

„Dir soll man nun was erklären“, sagt Albert ärgerlich, „auf dich Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an.“

„Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen“, beharrt Tjaden, und alles lacht.

„Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat“, –  ruft Müller.

(...)

„Richtig, aber bedenk doch mal, dass wir fast alle einfache Leute sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter, Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun woohl ein französischer Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und den meisten Franzosen wird es ähnlich mit uns gehen. Die sind ebensowenig gefragt wie wir.“



Jungen, die kaum angefangen haben zu leben, müssen sich mit dem Tod ausseinandersetzen. Auch wenn sie überleben, werden sie die Traumata des Krieges ihre ganzen Leben ertragen müssen. Sie werden ihre ganze Existenz prägen, ohne dass sie es verstehen können. Was Remarque betonen will ist, dass der Krieg nicht nur grausam, sondern vor allem sinnlos, nutzlos ist.

Paul wird sicht nicht retten können. Er wird im Oktober 1918 sterben „als wäre er beinahe zufrieden damit, daß es so gekommen war.“

Aus purer Angst hatte er einen Franzosen getötet. Remarque erlaubt darauf hin seiner Hauptfigur kein Happy End. Es scheint so, als ob Remarque dem Bibelspruch folge:  „Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.“



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So gehört Remarque zu den radikalen Pazifisten. Allerdings hat sein Pazifimus nichts mit politischen Einstellungen zu tun. Deshalb hat er wenig gemeinsam mit dem Pazifismus von Proudhon oder Gandhi. Sein Pazifismus kommt aus dem Wunsch leben und leben zu lassen. Seine Haltung erinnert mehr an Voltaires Haltung am Ende seines „Candide“. Für den französischen Schrifsteller waren die Gründe für den Krieg gleichgültig. Er hat zu viele Kriege erlebt, die ihre Ursache einfach in der Willkür oder Machtlust des Königs hatten. Deshalb forderte er, dass sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle.

Wenn Feinde ein Gebiet angreifen, ist es ratsam zu fliehen. Begründung: Man kann viele Gärten finden, aber es gibt nur ein Leben.

Aus Remarques Sicht gibt es auch keine „gerechten Kriege.“

Vielleicht sollte man wieder eine Diskussion über den Pazifismus führen. Vor allem wenn die Leben, die im Spiel sind,  Soldaten gehören, die nicht genau wissen, ob sie unterdrückte Völker befreien oder verborgenen Interessen dienen.

Es wäre interessant  zu wissen, welcher geheime Zufall  hinter der Tatsache steht, dass  in der letzten Zeit alle Kriege, ganz gleich welche Mächte sie anfangen, „Befreiungskriege“ gennant werden. Interessanterweise leisten viele dieser „unterdrückter Völker” auch noch Widerstand gegen ihre Befreier.

Neben dem Pazifismus wirft Remarque noch ein anderes Thema auf: Das Thema des Generationskonflikts.

Er zeigt eine kaputte und traurige Jugend. Die Bindungen mit der Generation ihrer Eltern lösen sich auf. Die Jungen leiden darunter. Sie sind nicht glücklich. Sie  empfinden nicht das Gefühl, dass sie sich von einen Joch befreien haben. Was sie fühlen, ist die Bitterkeit und Beklemmung der Einsamkeit. Im Krieg haben sie bemerkt, dass sie allein vor einer großen Leere stehen. Niemand kann ihnen helfen. Sie sind verzweifelt. Plötzlich ist der alte Weg verschwunden und es gibt niemanden, der ihnen sagen kann, wo und wohin sie weiter gehen sollen. Die Repräsentanten der Autorität, an die sie immer geglaubt hatten, können ihnen nicht mehr erklären, worin das Leben und die Existenz bestehen. Alles war ganz anders geworden: von den Produktionsbedingungen bis zum Regierungsmodell.

Die alte Generation konnte nicht mehr ihr Vorbild sein. Die Modernität hatte sie unvorbereitet und ahnungslos erwischt. Die neue stand allein vor den neuen Zeiten.

Das hat den Riss zwischen beiden Generationen verursacht. Es gab keine Rebellion. Die neue Generation hatte keine exorbitante Sehnsucht nach Freiheit. Nicht einmal den Stolz, mit neuen Technologien besser umgehen zu können.

Aber gerade dieses Einsamkeitsgefühl führte zu der Konsequenz, dass diese Jungen alles zurückwiesen, was mit der älteren Generationen zu tun hatte. Sie lehnten alles ab, was „schon gemacht“ war.

Sie waren auf eine zwanghaften Suche nach neuen Kunstformen und Existenzweisen. Das Letzte war immer das Beste. Das Letzte war die Avantgarde  - bis zur einem Punkt, wo die beste Avantgarde die avantgardistische Avantgarde war.

Auch Brecht beklagte dieses ständige Bemühen nach Neuerung. Er meinte, dass  solche Anstrengungen oft nur Inhaltlosigkeit der Ideen verschleierten. Das Gute könne man mit alten Steinen bauen, meinte er.

Dieser Fanatismus für das Neue ist in der Tat  Spiegelung der Unvernuft. Er hat die aktuelle Kultur in eine „Kultur des Benutzens und Wegwerfens“ verwandelt.

Aber das Verhalten der Erwachsenen ist noch unsinniger. Statt bestimmte Prinzipien zu verteidigen, haben sie den Lebenstil ihrer Kinder übernommen und damit ihre Unsicherheit.   Per definitionem ist die Jugend immer unsicher. Sie wissen noch nicht, wer sie sind und wie sie in der Gesellschaft auftreten sollen. Sie wissen noch nicht einmal, was sie wollen. Ein Grund dafür ist, dass die Wahlmöglichkeiten unermesslich sind. Ein anderer, noch wichtigerer Grund: die Jugend noch mit i (están haciéndose) und noch nicht „schon gemacht“.

Die Generation der 68er hat sich zwar bemüht, Freunde und  Kollegen ihrer Kinder zu werden. Sie hat aber vor der neuen Haltung der Gesellschaft nachgegeben: Hedonismus und Null-Bock-Haltung, gerade wenn die junge Generation sie am meisten brauchte.

Es ist nicht selten, Erwachsene zu finden, die voller Stolz erzählen, wieviel sie von den jungen Leute lernen. Es gehört einfach zum guten Ton. Solche Haltung beweist die Fähigkeit, neue Dinge zu lernen, immer offen für das Experimentieren zu sein. Jung zu bleiben, ist eine Zwangshaltung geworden. Eine Bessesenheit.

Kaum jemand sieht, dass solches Verhalten zeigt wie unreif einige ältere Leute sind. Sie wollen lieber lernen als lehren. Damit verpassen sie die Möglichkeit, der Jugend zu geben, was sie braucht. Sie benötigt Prinzipen gegen die sie rebellieren kann. Die Erwachsenen vergessen, dass die Jugend das Bedürfnis nach den Etablierten des „schon gemacht“ hat, um das zu reformieren oder gegebenenfalls sogar zu zerstören.

Man entzieht den Jungen alle Stützpunkte und man lässt sie glauben, dass jeder von ihnen der „neue“ Mensch sei. Man beraubt ihnen den historischen Charakter, den jeder Mensch hat.

Überdies verhindert das Fieber der Jugend für das Neue, dass sie sich für die Leistungen die Menschheit interessieren. Das Wichtigste ist nicht mehr die „Verbesserung“. Das interessiert nicht. Das Wichtigste ist, die Dinge „anders zu machen“.

Aber es kann keine Menschheit geben, wenn man ihre historischen Errungenschaften ignoriert und nur auf ewige Veränderung baut. Es ist wahr, dass die neue Generation verloren und desorientiert ist. Ihren Vorgänge ist es jedoch genauso ergangen.

Seit den Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Erwachsenen Haltungen eingenommen, die sie in Bezug auf ihre Funktion als Referenz für die Jugend entfernt haben.

Vielleicht wäre es gut daran zu denken, bevor man alle drei Jahre neue psychopädagogischen Theorien der Kindererziehung  vorschlägt und alle fünf Jahre neue Lehrpläne verabschiedet, damit unsere Kinder ohne viele Kenntnisse aber mit viel Spaß die Schulzeit bestehen. Und das nur, um zu beschließen, dass unsere Jugend unter einen Krise des Wertens leidet!

Es wäre anständiger zuzugeben, dass es vielleicht die Erwachsene sind, die eine Krise der Werte haben. Die mit fünzig Jahre an nichts und niemanden glauben und immer noch in dieselbe Disko wie ihre Kinder zum Flirten gehen. Oder die die mit sechzig lieber den Everest erklimmen wollen als sich um ihre Enkelkindern kümmern.

Wäre es nicht vorteilhafter, wenn sie ihre Kräfte in ihre Sprösslingen investierten? Wäre es nicht besser, wenn sie sie zwängen, die Hausaufgabe zu machen und Geige zu üben (wenn Sie denken, dass „zwingen“ zu stark ist, können Sie es durch „überreden“ ersetzen). Es könnte auch ganz lustig sein, ihre superbekannte Lebensgeschichte ihren Enkelkindern (falls sie welche haben – denn die Jungen lieben alles Neue machen nur keine kleinen neuen Leute machen) zu erzählen, während sie alle –ohne, dass die Muter das weiß – heimlich ein Stück Kuchen direkt vor dem Mittagsessen essen.

Vielleicht wäre das gerade das Neueste - wer weiß.

Bis zur nächsten Woche - genießen Sie ihr Alter, egal welches!

Isabel Viñado Gascón









Samstag, 9. Juni 2012

HEXENJAGD (1953), de Arthur Miller.


Zwei Akte genügen Arthur Miller, um die Natur des kollektiven Wahnsinns zu präsentieren. Miller zeigt wie dieses Monster geboren wird, wie es sich ausdehnt und wie es nur verschwindet, nachdem es mit dem Blut Unschuldiger satt geworden ist.

Man kann beobachten, dass ich „verschwindet“ und nicht „stirbt“ geschrieben habe. In der Tat: das Monster verlässt den verheerten Ort, ohne dass man weiß, wann oder wo es wieder erscheinen wird; noch nicht einmal mit welchen Stärke es wieder zurück kommen wird.

In dem Theaterstück von Miller verursacht Abbigail, die Nichte des Pfarrer Parris, die Tragödie. Sie wurde erwischt wie sie nachts mit ihren Freundinnen im Wald tanzte. Einige, wie auch Parris Tochter erkranken, und alle, sogar die Ärtze, sind ratlos. Sie vermuten, dass dahinter etwas Unheimliches steckt. Abbigail und ihre Freundinnen haben Angst entdeckt zu werden. Sie nutzen den Verdacht, dass Hexerei Ursache der Erkrankungen sei, als Möglichkeit, der Strafe für das Tanzen zu entfliehen. Sie behauptet, dass sie einige Frauen im Wald mit dem Teufel tanzen gesehen hat. Sie überzeugen davon nicht nur die meisten Bewohner des Dorfes, sondern auch später die Richter.

Abigails Attacke richtet sich vor allem gegen eine Frau namens Elizabeth. Abbigail hat schon einmal in der Vergangenheit ihren Mann, Dr. Procton, verführt. Sie ist überzeugt, dass er sie liebt und dass er im tiefsten seiner Seele „Halleluja“ singen würde, wenn seine Frau gehenkt würde. In Wahrheit aber benutzt Abigail ihre Leidenschaft, um sich an der Gruppe der achtbaren Frauen des Dorfes zu rächen, die sie wegen ihres Lebenswandels nicht akzeptiert haben.

Abigail und ihre Freundinnen beginnen, die achtbaren Frauen der Gemeinde anzuklagen. Dadurch verursachen sie die Zerstörung des Zusammenlebens im Dorf.

Die Situation für die angeklagten Frauen ist kompliziert. Wenn sie vor Gericht gestehen, dass sie Hexen sind und mit dem Teufel getanzt haben, werden sie zwar frei gelassen, aber aus der Kirche verstoßen. Wenn sie allerdings vor Gericht ihre Unschuld behaupten und der Hexerei überführt werden, werden sie aufgehängt.

Für die Männer hat die Anklage einen wirtschaftlichen Charakter. Werden sie verurteilt, verlieren sie ihr Leben und ihre Güter werden konfisziert. Der Dorfbewohner Giles Corey, der weiß, dass es genügend Zeugen gibt, die die Anklage der Hexerei zu unterstützen bereit sind sind, will eine Verurteilung um jeden Preis vermeiden. Er findet eine Lösung: Da nur gegen ihn prozessiert werden kann, wenn er auf die Anklage weder mit „ja“ noch mit „nein“ antwortet, verweigert er die Antwort. Die Richter wollen eine Antwort durch Folter erpressen. Corey erstickt unter der Last des Steines ohne „ja“ oder „nein“ gesagt zu haben. So verliert er zwar sein Leben, aber er kann sein Vermögen für seine Kinder retten.

Der Wahnsinn bemächtigt sich des Dorfes. Der Richter Danforth fällt seine Urteil, obwohl er erkennt, dass die Anklagen auf Lügen beruhen. Er fürchtet, dass er von den Anderen als schwach angesehen wird, wenn er seine Urteile aufhebt. Deswegen opfert er die Wahrheit und damit die Leben von vielen Unschuldigen.

Auch der Pfarrer Parris, Abigails Onkel, kennt die Wahrheit, aber er verteidigt seine Nichte. Auch er ist von der Gruppe der Respektablen nicht akzeptiert. Grund für diese Ablehnung ist, dass die Gemeinde mehr an Spiritualität interessiert ist, während Pastor Parris sich um einen höheren Lohn und einen Kirchengoldschmuck bemüht.

Am Ende des Theaterstücks entflieht Abigail in Begleitung eines Mannes mit allen Ersparnissen ihres Onkels.
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Die Unschuldigen sterben, um ihre Ehre zu retten. Die Schuldigen haben kein Problem, ohne sie leben zu müssen.

Man kennt die Wahrheit vor dem Opfer, aber nur nach dem Opfer wird sie anerkannt.

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Am kollektiven Wahnsinn sind auf jeden Fall immer die gleichen Akteure beteiligt: Diejenigen, die einflüstern; diejenigen, die den Eingeflüsterungen erliegen und die Opfer, auf die die Schuld an allen Problemen und Schaden der Welt fällt.

Die Dynamik ist auch immer dieselbe: Das einzige, was sich verändert sind die Vorwände, der kollektive Wahnsinn nutzt und die Proportionen, die er erreicht.

Die „Einflüsterer“ sind von niedrigsten Instinkten besessen. Ihre Motiven wurzeln in Rache, Neid oder Angst.

Zwei gemeinsame Noten charakterisieren solche Individuen: Erstens besitzen sie die notwendigen Instinkte, um die tiefsten und irrationalen Urängste zu ahnen, die jede Gesellschaft – sogar eine offene - in ihrem Inneren versteckt.

Zweitens sind sie intelligente genug, um solche Ängste ans Licht zu bringen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie sind imstande die Furcht vor Armut und Krankheiten oder wie in diesem Fall vor dem Übernatürlichen ausnutzen.

Die Argumente wechseln nach Zeit und Ort. Die Dynamik dagegen bleibt.

Die „Eingeflüsterten“ sind schwache Individuen, die keine Lust haben die Wahrheit zu suchen. Dies verlangt nämlich Urteilsunabhängigkeit und moralische Kraft, um zu akzeptieren, dass der Irrtum auch eine Möglichkeit sein könnte.

Ihnen geht es darum, eine Erklärung zu haben für die Schwierigkeiten, die sie erleben. Das wäre verständlich, wenn sie eine wahre Erklärung wollten. Aber was sie fordern ist eine schnelle, einfache und konkrete Erklärung. Ein Sündenbock ist die schnellste, einfachste und konkreteste Erklärung.

Die Opfer sind unschuldige Menschen, die zufälliger Weise den Einflüsterern begegnet sind und ihren tiefsten Hass erweckt haben. Manchmal ist es wegen ihrer Rasse, Religion oder Kultur. Andere, wie in diesem Theaterstück, weil sie eine bestimmte Position in der Gesellschaft einnehmen, um die sie die Einflüsterer beneiden.

Die Reaktionen der Opfer sind unterschiedlich: Einige identifizieren sich mit der in der Gruppe herschenden Anschaung. Sie akzeptieren ihre Schuld und sehen ihre Opferung als Weg, ihre Sünde zu bußen. Andere unterschreiben alles, was nötig ist, um am Leben zu bleiben. Andere fliehen und verlassen diese Gesellschaft für immer.

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Der kollektive Wahnsinn tritt mit verschiedenen Vorwänden und Proportionen auf. Sein schlimmster Ausdruck ist ein Weltkrieg, sein schwächerer die Ausgrenzung  eines einzelnen Mensch.

Er kann in einer Schule erscheinen, in einem ganzen Dorf oder in der ganzen Welt. Wenn seine Flammen erlöschen, bleibt eine zerstörte Gesellschaft übrig. Niemand kann richtig erklären, was passiert ist. Die es erlitten haben, sprechen von einer Art Fieber; Andere erinneren sich an nichts. Keiner kann erklären, warum ein solcher Grad von Gewalt explodiert ist.

In der Tat, der entfesselte Zorn ist völlig disproportional  zu den Argumenten, die den Vorfall rechtfertigen möchten. Viel schwieriger wird es noch, wenn die Opfer einzelne Individuen ist. Man hört, dass sie einen Hund hatte, dass sie sich anders bekleidete, dass sie zuviele Besuche bekommen hat, dass sie zuwenig hatte und so weiter.

Auf jeden Fall, das Ziel ist immer dasselbe: die Zerstörungs des Opfers.

Auch in unseren Zeiten existiert der kollektive Wahsinn. Man hat ihn aber nicht so präsent, weil er neben seinen alten Zügen neue Aspekte entwickelt hat.

So ist in den letzten Jahrzehnten ein neues Phänomen aufgetaucht, die die verschiedenen Sprache gezwungen hat, ein Wort zu finden, um es zu definieren. Auf Deutsch ist es „Mobbing“. In India heißt es „ragging“. In Spanien ist es „bullying“. Auf spanisch existierte das Wort „acoso“, aber es bezog sich hauptsächlich auf sexuelle Belästigung.

„Mobbing“, “ragging“, „bullying“ schließen psychologische und physische Gewalt ein, die das ganze moralische Gebiet überflutet.

Dieses Phänomen zeigt vor allem, dass die Götter, die das Blut der Unschuldigen verlangen sich an die neuen Zeiten angepasst haben. Sie haben gelernt, dass sie, um ihre Opfern zu vernichten, nicht immer ihr Blut ausfließen lassen müssen. Es reicht, wenn sie ihre Seele zerstören.

Und das alles in Zeiten, die sich selbst säkular nennen. Als ob die Abwesenheit in der Sonntagsmesse und sich als Agnostiker zu erklären die Religiosität zerstören könnte. Als ob die Religiosität nicht zur Natur des Menschens gehören würde. Der Umstand, dass Götter, Axiome, letzte Ursachen - oder wie man es nennen will – durch neue Götter, Axiome, letzte Ursache ersetzt werden können, bedeutet noch lange nicht, dass die Religiosität verschwindet.  

Das Neue ist die psychologische Boshaftigkeit der Ausgrenzung, die die Opfer erleiden. Man dreht die Bedeutung ihrer Worte um. Man entstellt ihre Gedanken und Ideen. Man defomiert ihre Taten. Ihre Tugenden werden als Defekte gezeigt, ihre Erfolge verschwiegen. Man erfindet Fehler, um sie in Verruf zu bringen. Man verwandelt und verzerrt also die Grundlagen, die diesen Menschen bilden. So dass er sich nicht mehr selbst erkennen kann. Er versteht das Bild nicht, das er von außen aufgedrängt bekommt. Gleichzeitig zweifelt er über sein eigenes Bild. Dieser Mensch wird seines eigenen Wesens entleert. Was bleibt ist eine Leiche, die laufen kann: ein Zombie.

Trotzdem hat man keinen Bluttropfen vergossen.

Trotzdem hat man keinen Beleidigung ausgesprochen.

Und das alles mit den neuen Waffen, die diese Bestie gefunden hat. Grundsätzlich sind es zwei.

Die erste ist der Humor, die er in Spott verwandelt wird. Der Humor dient nicht mehr dazu, das Leben leichter zu machen. Die neue „Abigails“ benutzen, sie um den Charakter anderer zuformieren. Solche Individuen sind ganz normale Menschen, aber – ohne das zu wissen - haben sie die dunkleste Leidenschaftes der „Abigails“ entzündet.

In anderen Zeiten wurden die Opfer gefoltert, geköpft oder ins Konzentrationslager geschickt. In unsere Tagen hat das Monster des kollektiven Wahnsinns gelernt den Humor als Spötterei zu benutzen. So kann es sich mit dem Blut der Unschuldigen satt machen, ohne dass jemand das Blut sehen muss. Falls eine Leiche gefunden wird, ist es mehr als wahrscheinlich, daß es Selbstmord war. Die meistens ihrer „Bekannten“ werden behaupten, dass dieser Tote psychische Probleme hatte.

Die andere Strategie, die die Bestie entwickelt hat, ist es, eine bestimmte Tugend herauszunehmen und sie als „die Tugend“ zu verabsolutieren. Ich kenne mindestens sechs Optionen: die Ehre, die Tapferkeit, die Sauberkeit, die Ordnung, die Ruhe und die Arbeit.

Ich möchte die Ruhe als Beispiel nehmen: Alle von uns werden mehr oder weniger akzeptieren, dass zum Arbeiten Ruhe notwendig ist. Man braucht sie, um zu lernen und zu meditieren. Lärm ist negativ sowohl für die Ohren als auch für die Seele. Aber zwischen der Ruhe, die eine Tätigkeit ermöglicht und die lähmender Friedhofsruhe, die manche in ihrem Wohnviertel durchsetzen wollen, gibt es einen gewaltigen Unterschied.

Der Kern in unserem Beispiel ist, dass es dem „Ruhe-Bessesene“ um die Ruhe um der Ruhe selbst geht. Statt sie zu nutzen, um seinen Geist zu entwickelen, instrumentalisiert er sie als Ausrede, um seine Herzbitterkeit zu verstecken. Er betrachtet die Ruhe nicht als Tugend, sondern als Vorwand, weil es ihn stört, dass die zufriedenen Nachbarn mit ihren Freunden auf der Terrasse sitzen, die Kinder draußen im Garten spielen. Diejenigen, die ein Fest organisieren, müssen entweder mit ihm oder mit der Polizei rechnen.

Dasselbe passiert mit den anderen Werten, die ich vorher gennant habe.

Die Konsequenzen, die eine derartige Tyrannei verursacht, sind in der Regel sehr ähnlich. Die Betroffenen haben das Gefühl, dass die Jagdsaison eröffnet ist und sie das Freiwild sind.

Gegen solch grausames Verhalten gibt es nur ein Mittel: das kritische und unabhängige Urteil und der Mut, wenn nicht aktiv die Opfer zu verteidigen, doch zumindest nicht an solcher Verfolgung teilzunehmen. Wenn diejenigen, die den Wahnsinn entfachen wollen, sehen, dass sie keine Chance haben, verzichten auf ihr Vorhaben oder zumindest wird die Bosartigkeit ihrer Absichten deutlich sichtbar.

Es ist fundamental, an das „Sapere Aude“ zu erinnern. Es ist wichtig, auf die individualistiche kantianische Moral zurück zu kommen, ohne die Gefahren zu vergessen, die Nietzsche gesehen hat. Nur mit dem aristotelischen Mittelweg können wir sie bewältigen.

Wir müssen die Tugenden so ausüben, dass sie uns helfen, unsere eigene Existenz zu konstruieren anstatt sie zu ersticken. Dazu müssen wir wissen, dass das Apolinische und das Dyonisische zusammengehören. Der aristotelische Mittelweg hilft uns weder moralischen Diktaturen  – selbst wenn diese nur für uns gelten - noch dyonisischer Wildheit zu verfallen –auch wenn sie tatsächlich eine Seite von uns selbst ist.

Es wird Zeit, dass die blutdurstigen Götter an Ernährungsmangel sterben.

Bis zur nächsten Woche!
Isabel Viñado Gascón