Sonntag, 20. Mai 2012

ERKLÄRT PEREIRA (1994) von Antonio Tabucchi


Das Buch ist ohne Zweifel ein gutes Buch. Tabucchi zeigt wie politischer Wechsel die Gesellschaft beeinflusst. Jedes Individuum erfährt die Veränderungen in seiner Existenz und Lebensweise, die es manchmal in bis dahin für es selbst undenkbare Richtungen lenken.

Auf den letzten Seiten des Buches wird der Rhytmus der Erzählung auf Grund der Schnelligkeit der Ereignisse atemberaubend. Das erinnert an „Die Nashörner“ von Ionesco. Die ganze Schilderung bis dahin ist eine bloße Einführung für eine Lawine, die alle sehen, aber  niemand ernst nimmt.

Die Hauptfigur ist Pereira, ein gewöhnlicher Mann aus Lissabon im Jahr 1938. Er lebt eingeschlossen in der Vergangenheit, in der Liebe für seine gestorbene Frau und in seinem Interesse an Kultur.

Die aktuellen Ereignisse werden ihn zwingen, seinen „Modus Vivendi“ zu verändern; aber wider allen Erwartungen nicht auf Grund der politischen Situation - wenigstens nicht in einem ersten Moment. Denn Pereira ist ja an Politik  eigentlich völlig uninteressiert. Er hätte im Prinzip keine Schwierigkeiten, sich an das neue politische Regime anzupassen. Er würde sich einfach weiter mit Kultur beschäftigen.

Ein Ereignis wird die Monotonie seines gewohnten Lebens radikal erschüttern und ihn zu neuen Gedanken und vorher nie geträumter Kühnheit treiben: der Mord an dem jungen politischen Dissidenten Monteiro Rossi. Eines muss klar gestellt werden: Es ist die Ungerechtigkeit und nicht die Politik, die ihn aus seiner bisherigen Lethargie reißt.



Viele der Unterhaltungen im Buch verlaufen in dem gemütlichen Cafe Orquídea. Es erinnert den spanischen Leser an das Café Gijón in Madrid.

Der Kellner Manuel gehört zu jenem Typ von Kellnern, die über alles sprechen. ohne etwas zu sagen. Er macht sich Sorgen, wenn die Gäste nicht zufrieden sind und ist tief davon überzeugt, dass ein Glas Portwein jedes Problem lösen kann. Allerdings bekommt der Leser eher Appetit auf Limonade und Käseomelette – nachdem Pereira das so oft bestellt hat.

Der wichtigste Ort in dem Buch ist jedoch Pereiras Wohnung. Dort ist das Foto seiner verstorbenen Frau, mit der er jeden Tag spricht. Es gibt einen vielleicht noch wichtigeren Ort. Dieser Ort heißt Portugal.

Das ganze Buch dreht sich um die Frage nach dem Schicksal von Portugal. Pereira möchte wissen, was die Begriffe „Portugal“ und „ portugiesisch“ bedeuten. Er findet es erstaunlich, dass der Herausgeber seiner Zeitung von der „portugiesischen Rasse“ spricht, wenn in Portugal doch unterschiedlichste Völker gelebt haben. Ursprünglich waren sie Lusitanier, dann kamen die Römer, die Kelten und die Araber.

Der Herausgeber selbst weiß, dass er nicht über die Rasse in strikten Sinn sprechen kann. Er will Portugals Bedeutung als Weltmacht unterstreichen.

Ist es wirklich das, was „portugiesisch“ bedeutet? Das Portugiesische und nur das Portugiesische zu wollen, auch wenn das Portugiesische nicht immer das Beste ist? Muss man einen Artikel über einen durchschnittlichen Roman von Castelo Blanco schreiben statt über Alphonse Daudet, nur weil der erste aus Portugal kommt und der zweite ein Franzose ist? Nur weil die Politiker in diesem Moment nicht über Frankreich sprechen wollen (höchstens über Deutschland), obwohl die französische die portugiesische Kultur traditionell stark beinflusst hat?

Das Buch ist eine Reflexion über den Faschismus. Er deformiert  und karikert nicht nur die natürliche und verständliche Heimatliebe, sondern seine Atmosphäre imprägniert auch jede Handlung, jeden Gedanken. Niemand kann abseits stehen. 

Auf die Frage, was es bedeutet, „portugiesisch zu sein“, folgt die Frage nach der Beziehung zwischen Kultur und Politik. Pereira interessiert sich nicht für Politik, aber doch für Kultur. Er mag Daudet. Er hält ihn und Maupassant für ausgezeichnete Autoren. Pereira versteht die Liebe zum eigenen Land. Deshalb sieht er nichts Ungewöhnliches darin, dass Daudet eine seiner Hauptfiguren am Ende einer Schulstunde 1871  „Vive la France“ an die Tafel schreiben lässt. Vor allem, wenn eine solche Geste die Forderung nach der französischen Souveränität angesichts der preussischen Invasion bedeutet.

Nach Pereira Meinung ist das literarische Denken französisch, das politische Denken angelsächsisch; wohingegen man in Portugal auf diejenigen hört, die am lautesten schreien.

Pereira zieht daraus seine Schlußfolgerungen: Diejenigen, die sich für die Kultur interessieren sind frankophil; diejenigen, die sich für die politische Freiheit interessieren, sind pro-angelsächsisch und diejenigen, die sich am Grad des Niveaus der Stimmen orientieren, sind für den Faschismus; ganz gleich, ob sie Italiener, Deutsche oder Spanier sind.

Als der politische Wechsel in Portugal die Kultur durch Zensur anzugreifen beginnt, fängt Pereira an, sich Gedanken darüber zu machen, welche seine eigene Haltung sein soll. Widerstand und Auflehnung? Anpassung? Keine der beiden Lösungen überzeugt ihn.

Pereira ist kein Revolutionär. Er will nur seine Ruhe haben, um das zu tun, wofür er sich allein interessiert: Kultur. Deshalb versteht er auch die junge politische Aktivistin Marta nicht. Sie kämpft gegen den Faschisten und beschreibt Pereira als „individualistischen Anarchisten“. Pereira lässt sich indes von dieser Bemerkung nicht beindrucken. Aus seiner Sicht ist Marta zu politisiert. Sie kann mit niemanden sprechen, ohne ihren Gesprächspartner gleich in einer bestimmte politischen Kategorie zu klassifizieren.

Pereira ist überzeugter Katholik. Das Einzige, woran er nicht glaubt, ist die Auferstehung des Körpers. Sein Ziel ist es, den  Katholizismus vom Faschismus zu trennen. Tabucchi will mit seinem Buch die Behauptung widerlegen, dass der ganze Katholizismus die faschistische Bewegung unterstütze.  Er beruft sich auf Bernanos Werk: „Journal d’un cure de champagne“.

Die Franzosen erscheinen als die Einzigen, die imstande sind, den Faschismus überwinden zu können; und zwar durch ihre Kultur und nicht durch die Politik, die – wie Perera ja erläutert hat - eine angelsächsische Domäne ist.

Nach Tabucchi-Pereira haben die Franzosen nicht nur in der Kultur, sondern auch in der Welt der Medizin die Führung. Französische Ärzte pflegen nicht nur den Körper; sie kümmern sich auch um die Beziehung zwischen Körper und Seele. Pereiras Fettleibigkeit ist daher die Konsequenz  von Bewegungsarmut zusammen mit schlechter Ernährung, die Ausdruck seiner inneren Unruhe ist. Diese Unruhe kommt aus seiner Anhaftung an die Vergangenheit und seiner Unfähigkeit, sich  der Zukunft  zu stellen,  die Marta und Monteiro Rossi mit ihren Ideen vertreten.

Und was wäre, wenn die Jungen Recht hätten? - fragt sich Pereira.

Das Buch endet mit dem Tod Monteiro Rossis durch drei als Polizisten verkleidete Faschisten sowie Pereiras Abreise aus Portugal mit Hilfe eines falschen von Monteiro Rossi angefertigten Ausweises. Das Foto mit dem Porträt seiner Frau begleitet ihn.  Vor der Ausreise schreibt er noch einen Zeitungsartikel, in dem er den Mord an seinem Freund verurteilt.

Das Buch erlaubt verschiede Interpretationen:  Tabucchi klagt die Deformation an, die die fundamentalen Werte einer Gesellschaft in einer faschistischen Diktatur erleiden: vor allem Heimatliebe, Religion und Kultur. Das verursacht nicht nur physische Unsicherheit, sondern auch persönliche Entfremdung sowie die Unmöglichkeit, in Freiheit und Gelassenheit Entscheidungen zu treffen.

Tabucchi fügt hinzu: Man kann sich der alles durchdringende Atmosphäre des Totalitarismus nicht entziehen.

Diktaturen deformieren Werte und soziale Schemata. Sie ridikülisieren und manipulieren diese zu ihrem eigenen Vorteil. Das erklärt weshalb Gesellschaften, die lange unter  Intoleranz gelitten haben, ein langer Erholungsprozesse erwartet. Je länger die Diktatur gedauert hat, desto schwieriger wird es, zur Normalität zurückzukehren, da Kultur und Werte grundlegend zerstört wurden. Die Anstrengung einer ganzen Generationen wird nötig sein, um zum status quo ante vor der Wertezerstörung zurückzukehren.  Ganz gleich welche Art von Totalitarismus: militarisch, politisch oder religiös. Die Konsequenzen sind immer katastrophal, weil die Werte so gefälscht und deformiert werden, dass, wenn die Diktaturen zu ihrem Ende kommen, die Bürger keinen Wert mehr akzeptieren wollen.  Jeder Wert steht unter Generalverdacht und weckt Erinnerung an die Unterdrucküng und die Unterdrücker.

Trotz all dieser Schwierigkeiten bleibt nur eines übrig: Wir dürfen nicht aufhören uns anzustrengen, die Werte aus ihrer Verfälschung zu befreien und für unsere individuellen und gesellschaftlichen Träume wieder nutzbar zu machen.  Es ist gerade der unterschiedliche Charakter der Träume, der Diktaturen von Demokratien unterscheidet. In der Diktaturen können sich individuelle Träume nicht verwirklichen. In Diktaturen bleiben sie bloße Hirngespinste – die kollektive Träume dagegen werden zu Größenwahn.

Träume verwirklichen zu können, ist fundamental für das Überleben jeder Gesellschaft. Das ist nur möglich, wenn Freiheit existiert. Die Freiheit erlaubt die richtige Nutzung der Disziplin, Geduld, Ausdauer und vor allem des Glaubens im umfassenden nicht nur religiösen Sinne. Alle diese Werte sind die wichtigsten Werkzeuge, um eine offene Gesellschaft aufzubauen.

Es ist unsere Verantwortung, den zukünftigen Generationen zu zeigen, dass wir Werte als nutzbare Werkzeuge betrachten müssen. Sie erlauben, dass wir unsere Träume  verwirklichen. Es ist auch unsere Verantwortung,  den alten Generationen zu zeigen, dass wir würdige Erben ihrer Anstrengungen sind.

Der Totalitarismus hat Tugenden und Werte in einen so bedauerliche Zustand gebracht, dass es den Anschein hat, als ob sie nie mehr nutzbar wären. Es ist Zeit, dass wir die Werte reinigen und wieder herstellen, um sie aus ihrem traurigen Zustand herauszuholen. Es ist dringend nötig, dass wir sie für uns wieder gewinnen.

Wir müssen die Hirngespinste hinter uns lassen. Es ist Zeit, dass wir im Ernst daran arbeiten, unsere Träume verwirklichen können. Mein Albtraum wäre, viele Werkzeuge, aber keine Träume zu haben, für die wir diese Werkzeuge benutzen können.

Bis zur nächste Woche!

Isabel Viñado Gascón


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