Montag, 17. Dezember 2012

DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER (1939) Joseph Roth


Dieses Buch ist eher eine längere Erzählung als ein Roman.  Joseph Roth schrieb sie kurz vor seinem Tod. Er starb am 27. Mai 1939. Seine Erzählung wurde posthum veröffentlicht.

Etwas mehr als fünfzig Seiten genügen und der Leser erlebt die Rothsche Welt als seine eigene. Solche Intensität steckt in dem Buch. Der Leser schließt das Buch mit dem selben Gefühl wie ein Reisender, der nach einen langen Reise durch exotische Länder nach Hause zurück kehrt. Auch wenn er wieder zu Hause ist, ist sein Geist doch immer noch den gerade erlebten Emotionen verhaftet. Manchmal ist der Geist langsamer als der Körper, weil dieser dort bleiben will, wo die Eindrücke am stärksten waren.

Die Geschichte beginnt an einem späten Nachmittag im Spätfrühling des Jahres 1934. Ein Unbekannter bietet dem Obdachlosen Andreas Kartak zweihundert Franken an. Andreas ist ein Alkoholiker, der seine Nächte unter einer Brücke verbringt. Er ist aus dem polnischen Schlesien nach Frankreich gekommen. Der geheimnisvolle Wohltäter weist Andreas an: Wenn er sich verpflichtet fühle das Geld zurück zu zahlen, solle er dies in der Kirche  „Ste. Marie de Batignolles“ tun. Der Fremde erklärt, dass er ein Anhänger der Heiligen Therese sei, deren Statue sich in der Kirche finde. Andreas gibt sein Versprechen. Auch wenn er arm sei, so sei er doch ein Mann von Ehre.

Ab dem nächsten Tag beginnt sich sein Leben auf überraschende Weise zu verändern. Andreas findet eine Arbeit. Er hat eine Liebesbeziehung. Er trifft verlorene Freunde aus seiner Kindheit wieder. Nur eines schafft er nicht: die zweihundert Franken in der Kapelle „St. Marie de Batignols“ zurück zu geben. Jedes Mal passiert etwas Unerwartetes, das mit seiner Alkoholsucht zu tun hat. Immer wieder hindert ihn sein Alkohol-Problem an der Erfüllung seiner guten Absichten.

„Die Legende vom heiligen Trinker“ ist eine Geschichte voller kleiner Wunder. Sie erzählt von einem Versprechen gegenüber einem Fremden, das eigentlich eines gegenüber sich selbst ist. Die Geschichte erzählt von dem nie aufhörenden Wunsch, dieses Versprechen zu erfüllen und davon, es wieder und wieder zu brechen.

Das Buch ist ein liebenswürdiges und menschliches Buch. Es ist eine Erzählung über das Leben selbst. Im Leben gibt es so viele unerwartete Momente, die wie Signale aus dem Absoluten erscheinen. Signale, die uns ermutigen, unsere Existenz zu verändern. Signale, die einen neuen Weg vor unseren Füßen zu zeigen scheinen. Indizien, dass wir uns verändern können, wobei dieses „Sich-verändern“ „Sich-verbessern“ bedeutet.

Wir versprechen, uns zu ändern. Wir versprechen es uns, dem Universum, Gott. Wir versprechen, unsere Ziele zu erreichen. Dennoch werden wir aus verschiedenen Gründen am Ende immer wieder wiederholen: „Morgen“.

Die Erzählung ist vielleicht auch die Erzählung der tausend Kämpfe Roths mit dem Alkohol.  Wer kämpft nicht gegen seine eigenen und individuelle Dämonen? Alkohol, Faulheit, Habgier, Missmut. Ganz gleich um welche Dämonen es sich handelt: Jeder, der dagegen ankämpft, darf als Heiliger gelten. Auch wenn sich die Kämpfe im Nachhinein als nutzlos entpuppen.

Die Erfolglosigkeit entwürdigt Andreas nicht. Was aus ihm einen Heiligen macht, sind seine beständigen Versuche, seine Ziele zu erreichen. Was ihn heiligt, ist nicht das Erreichen des Berggipfels, sondern der Anstieg selbst. Seine Armut im Geist verhindert die Erlangung seiner Ziele. Trotzdem hat er sich seinen Platz im Himmel gesichert.

Andreas ist kein lasterhafter Mensch. In seiner Seele ist nicht die geringste Absicht zu finden, jemandem weh zu tun. Ihm fehlt nur die notwendige Kraft, seine Pläne zu verwirklichen. Aber Gott lässt die Tür zur Heiligkeit nicht nur einen Spalt breit für diejenigen geöffnet, die im darwinistischen Alltagskampf den Kürzeren ziehen. Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich (Matthäus 5.3).

Es kann nicht genug wiederholt werden, dass Alkoholismus weder schön noch romantisch ist. Die Trinkerei zerstört die Neuronen, die menschlichen Beziehungen und die Familien. Die Alkoholiker aus Fleisch und Blut sind weder die sympathischen Trinker der Romane noch die melancholischen Helden der Filme.

Sie zerstören nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das Leben derer, die ihnen nahe stehen. Heutzutage hat man das Rauchen dämonisiert. Ich verstehe nicht, warum man mit der Trinkerei dasselbe unternimmt.

Das Erstaunliche ist, dass Alkoholiker und Alkoholikerinnen versuchen, die anderen zu überreden, dass Alkohol nicht schädlich sei. Sie sind überzeugt, dass der Alkohol zu Spaß und Gesellchaft dazu gehört. Man muss zugeben, dass die Selbstüberzeugung häufig die beste Waffe ist, um anderen von etwas zu überzeugen. Nicht selten gelingt es ihnen, diejenigen die nicht trinken als Langweiliger abzustempeln. Sie verwandeln den Whisky und andere alkoholische Getränke in unverzichtbare Bestandteil des Erfolgs. Das schlimmste ist, dass sie - auch wenn es schwierig ist, das einzugestehen ist -  Recht haben. Ein Beispiel sind die Deutschen, die sich nach ihrer Vertreibung aus Kamerun 1916 in Zaragoza niederließen.  In die Kirche zu gehen, war nicht das erste, um mit der katholischen spanischen Gesellschaft in Kontakt zu kommen. Zuerst haben sie die teuersten Nachtlokalen besucht. Solche Orte waren für die Wohlhabenden und Einflussreichen reserviert. Dort knüpften die Deutschen die wesentlichen Beziehungen  und Kontakte, die sie für ihre Geschäfte benötigten.  Zu diesem anekdotischen Kapitel der Geschichte empfehle ich die interessante Lektüre des Buches „Soldados en el Jardín de la Paz“ („Soldaten im Garten des Friedens“) von Sergio del Molino.

Es sieht so aus, als ob der Alkohol den oberen Sphäre der Gesellschaft nur Gewinne anbiete und sich die schädlichen Konsequenzen nur in den unteren Klassen beobachten ließen.

Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass mehr als ein gebildeter und veranwortungsbewußter Mensch Opfer des Alkohols in seiner Studentenzeit – oder sogar früher - wurde. Sie dachten  – und wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht -, dass über den Alkohol geknüpfte Beziehungen Karrieren helfen. Andere sehen im Alkolhol auch Elemente zur Genialität: Weil einige große Männer – wie Roth - Alkoholiker waren, wollen sie unbedingt glauben, dass Alkohol genial macht.

Auch Bertold Brecht besingt in seiner ersten Schaffensepoche seinen Abstieg in die Unterwelt und zum Alkohol. Später jedoch wird er eine radikale Wendung vornehmen. Ihm sind die Schäden, die der Alkohol in der Gesellschaft verursacht, nicht unbemerkt geblieben. Bertold Brecht war überzeugt, dass die Konsequenzen des Alkohols in der Arbeiterklasse wegen der Prekarietät ihrer materiallen Ressourcen besonders verheerend sind. Die didaktische Absicht des Theaterstucks „Herr Puntila und seine Knecht Matti“ aus dem Jahr 1940 kann man nicht übersehen. Seine Hauptfigur –  der kapitalistische Puntila - ist ein „halber“ Mensch, der nur unten der Wirkung des Alkohols ein „richtiger“ Mann sein kann. Seine Knecht Matti braucht keinen Alkohol, um ein richtiger Mann zu sein.

Die wachsende Zahl der Mädchen und Jungen, die diese Probleme darf niemanden gleichgültig lassen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ ist so zynisch wie nutzlos. Ich möchte wissen, was damit gemeint ist. Man darf der Jugend die Trinkerei nicht beibringen. Man muss der Jugend beinringen, „nicht zu trinken“.

Der Führerschein, den sie bestehen mussen ist nicht der Führerschein der Trinkerei, sondern der Führerschein des Lebens. Deshalb geht es darum, der Jugend beizubringen, nicht gegen die Verkehrsregeln des Lebens zu verstoßen. Der Satz „Man muss trinken lernen“ erinnert mich an Unsitten des 19. Jahrhunderts, als würdige bürgerliche Väter ihre Söhne in Bordelle mit genommen haben, damit sie Sex „lernen“. Von den zahlreichen psychologischen und physischen Schäden, die eine solche „Lehre“ verursacht hat, erzählt Tolstoi in seiner 1889 geschriebenen Erzählung „Die Kreutzersonate“.

Man muss auch beibringen, einige Dingen nicht zu tun. Ich kenne niemanden mit gesundem Verstand, der seinen Kindern das Stehlen beibringt, außer wenn er sie als Verbrecher ausbilden möchte. Ich glaube nicht, dass das Spaßniveau von der Anzahl der getrunkenen Cocktails abhängt.

Eines ist auf jeden Fall wichtig: die Schönheit des Glases. Wenn das Gefäß aus fein geschliffenem Glas ist, wen kümmert es, dass darin nur Wasser ist? Haben sie den Film „The Purple Rose of Cairo“ von Woody Allen gesehen? Das Wichtigste in einer Filmvorstellung ist nicht die Authentizität, sondern der Effekt. Im Ernst! Ich verstehe nicht, warum die Abstinenzler immer die hässlichen Gläser bekommen!

Es täte mir leid, wenn einige von Ihnen einen guten Rat mit einer Moralpredigt verwechseln würden. Das ist nicht meine Absicht.

Das Leben ist eine Wegstrecke, an deren Ende der Tod auf uns wartet. „Die Legende vom heiligen Trinker.“ endet mit einem Gebet: „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!

Dieser Wunsch hat sich für Roth nicht erfüllt. Roth starb im Deliriums tremens. Er war Opfer einer Lungenentzündung, die ihm der Alkoholismus zugefügt hatte.

Bis zur nächsten Woche

Isabel Viñado Gascón

 

 

Sonntag, 2. Dezember 2012

PERSISCHE BRIEFE (1721) Charles Louis de Secondat. Baron de MONTESQUIEU


Die „Persischen Briefe“ von Montesquieu - ein Buch in Briefform geschrieben, dessen Ideen auch heute noch eine fundamentale Referenz für das Verständnis der Gegenwart anbieten; für eine Zeit wie die unsere, gekennzeichnet durch moralische Desorientierung und Wirtschaftskrise – auch wenn es heute schlecht angesehen ist, sich auf die „Moral“ zu beziehen und die Wirtschaftskrise auch eine ideologische und soziale Krise ist.

Auf jeden Fall hoffe ich, dass mein Blog zur Lektüre des Buches anregen wird. Montesquieu hat Zusammenfassungen von Büchern nicht geschätzt. Seiner Meinung nach bringen sie nichts Neues (Brief LXVI).

Das Buch fängt mit der Abreise des persischen Politikers Usbek an. Er flieht aus seinem Land unter dem Vorwand, dass er eine wissenschaftliche Reise ins Ausland unternehmen wolle. Im Brief VIII erklärt er seinem Freund Rustan die wirklichen Gründe: Seine Ehrlichkeit habe ihm Feinde geschaffen. Es sei nötig, sich von ihnen zu befreien und die Flucht zu ergreifen.

Während seiner Reise stellt Usbek  die Unterschiede zwischen den europäischen und den orientalischen Sitten fest. Eigentlich benutzt Montesquieu diese Feststellungen als Anlass, um Antworten auf zwei wesentliche Fragen zu geben: Wie bildet sich eine Gesellschaft heraus und welcher Grundlagen bedarf eine Gesellschaft um aufzublühen.

In Bezug auf ihre Enstehung existiert eine Gesellschaft – zumindest vom physischen Standpunkt aus gesehen - seitdem sich eine Familie vermehrt. In diesen Sinn unterscheidet sich Montesquieu von der Hobbesschen Theorie, wonach die Gesellschaft aus dem öffentlichen Recht enstehe.

In Bezug auf die Grundlagen einer blühenden Gesellschaft beweist Montesquieu in der Fabel der Troglodyten, dass alle Regierungsformen Demokratie, Monarchie oder Tyrannie fehlerhaft sind. Ihre Unzulänglickeit führt zum Sturz der Gesellschaften. Laut Montesquieu können Gesellschaften – ganz gleich welche Regierungsform sie besitzen - nur überleben, wenn sie Tugenden praktizieren.

Es ist nicht Montesquieus Absicht, eine ewige und unveränderliche Definition der Tugend aufzustellen. Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit, Bildung... alle diese Prinzipien erscheinen ohne irgendwelche religiöse Konnotationen. Ihre Bedeutung muss von einem praktischen und politischen Aspekt betrachtet werden.

Ohne Tugenden verfällt jede Gesellschaft. Nur mit ihnen können sich Gesellschaften halten und Fortschritte machen, weil sie die Vorausetzungen für Handel und Industrie in einer kommunikativen und friedliche Atmosphäre schaffen.

Damit fragt Montesquieu nicht nach unveränderlichen und absoluten Definitionen, sondern nach den nötigen Voraussetzungen, um eine Gesellschaft von Menschen für Menschen aufzubauen.

Die wichtigste Tugend ist die natürliche Tugend; also die Tugend, die den, der sie übt keine Mühe kostet, weil sie aus aus seiner inneren Natur stammt (Brief L). Wenn alle Bürger diese Tugend praktizierten, bräuchte eine Gesellschaft keine Regierung.

Prinzen und Gesetze sind dann nötig, wenn die innere und natürliche moralische Kraft der Bürgern schwächer geworden ist. Die Bürgern wollen lieber ihnen und ihren Normen als ihren eigenen Tugenden gehorchen; einfach weil solche äußeren Gesetze weniger rigide als ihre eigenen Sitten sind (Brief XIV).  Dann braucht man externe Mechanismen, die die Weitergeltung der Tugenden erhalten. Wie Montesquieu gezeigt hat kann keine Gesellschaft ohne sie sehr lange überleben. Jedenfalls betont Montesquieu, dass die innere Motivation wirksamer als jeder äußere Druck ist.

Im Brief XII behauptet Montesquieu, dass die Tugend den Gesetzen vorher gehe. Im Brief CXXIX schreibt er, dass sie über dem Gesetz stehe. Die Rechtfertigung dieser Aussagen liegt in der Tatsache begründet, dass die Gesetzgeber ihr Amt oft nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern  auf Grund zufälliger Umstände erlangen. Außerdem sind ihre Gesetze häufig das Produkt ihrer Vorurteile und Einbildungen. Sie erschaffen kindische und nutzlose Institutionen, die allein für Kleingeister taugen. Vernünftige Köpfe aber halten nicht viel davon.

Trotz dieser Kritik erkennt Montesquieu, dass einige Normen für den Erhalt einer Gesellschaft lebensnotwendig sind: wie zum Beispiel diejenigen, die den Eltern Autorität über die Kindern bewilligen. Denn es sind die Eltern, die die Werte, die eine Gesellschaft am Leben hält, vermitteln.

Wenn Montesquieu über Tugenden spricht, dann betrachtet er drei wichtige Werte: Mildherzigkeit, Menschlichkeit und Respekt vor dem Gesetzes des Ortes, in den man lebt. (Brief CXXXIV). Solcher Gehorsam gegenüber dem Gesetz hat jedoch auch bestimmte Grenzen. Die „extravagance humaine“, eine unverantwortliche Regierung zu akzeptieren (Brief XL) und der Umstand, dass die Prinzen –und vor allem ihre Minister - der Versuchung der Korruption zu erliegen, stehen dem richtigen Ablauf einer Gesellschaft entgegen. Deshalb ist es nötig, dass die Amtsfunktionen unter der Kontrolle der Bürger stehen. Die Gehorsampflicht der Untertanen endet, wenn der Prinz versucht, den Untertanen zu schaden, statt sich um sie zu kümmern. Montesquieu stellt das englische Volk als Vorbild dar, weil es von diesem Kontrollrecht über die Regierung so häufig Gebrauch macht (Brief CIV).

Montesquieu versucht die für eine glückliche Gesellschaft notwendigen Voraussetzungen zu bestimmen.

Daraus kann man schließen, dass für Montesquieu der Begriff der Tugend einen mehr politischen als moralischen Charakter hat. Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Erziehung bilden verschiedene Aspekte der Tugend, auf die Montesquieu sich bezieht.

1.      Freiheit mag auf den ersten Blick nicht sehr tugendhaft erscheinen. Jedoch ist sie in jedem Fall anständiger als Tyrannei. Die Tyrannei, die sich nach außen als sittlich und bescheiden zeigen mag, versteckt doch in ihrem Inneren nur Verderbnis und Betrug. Die Revolution ist sicher unausweichlich, weil die Sklaven früher oder später rebellieren werden; in den „Persische Briefen“ die Abwesenheit des Tyrannen ausnutzend. Die Anwendung der Gewalt durch den Staat wird immer nötiger, um den sozialen Frieden bewahren zu können, aber gleichzeitig wird sie auch immer unwirksamer. Die Sklaven sterben lieber als in Sklaverei weiter zu leben. Die Unfreiheit führt zur Täuschung und zur Rebellion. Das Gesellschaft zebricht als Folge der Revolte und des sozialen Chaos.

Machtmißbrauch ist stets gefährlich. Im Brief CXLVI sagt Montesquieu, dass die Minister, die den Prinzen täuschen und das Volk ruinieren, der Gesellschaft schaden. Nicht nur wegen ihrer egoistischen Ambitionen an sich, sondern vor allem, weil solche Sitten ansteckende schlechte Vorbilder sind.

Falsche Tugend kaschiert die egoistischen Wünsche eines Individuum oder einer Gruppe. Im letzten der „Persischen Briefe“ (Brief CLXI) wirft Roxane Usbek vor, dass er mit seinen ständigen Appellen an die Tugend nur anderen seine eigenen Leidenschaften, Überzeugung und Wünschen aufdrängen wolle. Das hat nichts mit wahrer Tugend zu tun. Sie beruht auf der Freiheit, Gleichheit und Toleranz, niemals auf Zwang. Ganz gleich um welche Tugend es sich handelt.

2.      Religiose Toleranz und Respekt vor anderen Ideen.

Intoleranz – auf religiöser, sozialer oder ökonomischer Ebene – schafft Ungleichheit in den Gesellschaften. Toleranz hat eine durchaus praktische Funktion. Die Tatsache, dass wir alles nach unseren eigenen Weltbildern beurteilen (Brief LIX) und dass jeder von uns dazu neigt, sich nur über seine eigenen Probleme zu beschweren (Brief CXXXII), verpflichtet uns, andere Archetypen und Probleme als die unseren zu akzeptieren.

Die Worte, die Montesquieu in Usbeks Mund über die Parsen legt, können auf die französischen Protestanten zur Zeit der Religionskriege angewendet werden. „Die Verfolgungen, die unsere mahometanischen Eifer gegen die Parsen durchgeführt haben, haben diese nach Indien vertrieben. Persien hat dieses fleißige Volk verloren. In der Tat, nur mit ihrer Arbeit konnten die Parsen unser Land fruchtbar machen“.

Montesquieu – wie dreißig Jahre später Voltaire in seinem Buch „Das Jahrhundert Ludwigs XIV“ – beklagt die schlimmen Konsequenzen der Vertreibung der französischen Protestanten für die französische Wirtschaft. Die königliche Edikte brachten nur unheilbringenden Folgen mit sich.

Sie waren fleißige und gut gebildete Minderheiten, die in der Lage waren, schwierige Lebensbedingungen zu ertragen. Nachdem sie ausgewandert waren, blieben die Ackerflächen, die sie bearbeitet hatten verlassen und öde.

Montesquieu behauptet, dass die Ursache von Religionskriegen nicht in der Vielheit der Religionen,  sondern in der Intoleranz zu finden sei. Intoleranz entsteht aus dem proselytistischem Wunsch, anderen Religionen zu beherrschen. Jede von ihnen fühlt sich im Besitz der Wahrheit. Das Entscheidende aber – so Montesquieu - sind nicht die Religionen, sondern die Religiosität. Deshalb sind die Zeremonien und die Förmlichkeiten nicht das Wesentliche, sondern die Anstrengungen, Gott zu gefallen. Im Brief CXXXIV hinterfragt Montesquieu die Vorteile der Interpretationen der Heiligen Schriften. Solche Werke enthalten nur die verschiedenen Meinungen der Interpreten.  Allerdings vernebeln sie wirkliches Verständnis.

Die Verteidigung der Toleranz von Montesquieu sowie von Voltaire ist heute immer noch unumgänglich für alle, die dieses Thema vertiefen möchten. Ihre Positionen lassen sich in zwei Grundgedanken ausdrücken: Erstens - Gott braucht keine Verteidiger. Zweitens - Intoleranz entsteht, wenn ein Mensch oder eine Gruppe sich als Besitzer einer unverifizierbaren Wahrheit sehen.

Montesquieu und Voltaire heben den nützlichen Einfluss religiöser Minderheiten auf ihre Mehrheitsgesellschaften hervor, weil sie durch ihre Arbeit und die Ausübung der Tugenden das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen insgesamt steigern.

Die Grenzen der Toleranz liegen immer noch dort, wo sie Voltaire einst festgelegt hat: Die Toleranz endet dort, wo die Intoleranz anfängt.

Beide Tugend zusammen: Freiheit und Toleranz haben eine große praktische Relevanz in jeder Gesellschaft.

a)      Bewahrung des Friedens.

b)      Ermöglichung der Kommunikation.

c)      Entwicklung des Handel.

Friede entwickelt  den Handel. Gewaltätige Regierungsregime dagegen machen ihn unmöglich und lassen Gesellschaften verarmen (Brief XIX). Handel bedarf der Kommunikation und Geselligkeit. Mangel an Kommunikation führt zu einer Intensivierung protokolarischer Formalitäten und Riten, die Begegnungen erschweren (Brief XXXIV). Der Handelsverkehr entsteht aus der industriellen, landwirtschaftlichen sowie intelektuellen Produktion eines Landes. Kritisch sieht Montesquieu die Gewinnung von Edlemetallen. Er bedauert, wieviele Menschen ihr Leben in Gold- und Silberbergwerke opfern müssen, nur weil diese Metalle durch menschliche Konvention  wertvoll geworden sind (Brief CV).

Förderung der Künste: Montesquieu schätzt die Bedeutung der Kunst für einer Gesellschaft hoch ein. Dafür gibt es einige Gründe.

-          Die Kunst sublimiert die Liebe zum Ruhm

-          Die Kunst vermeidet Müßigang. Niemand, der sich für die Kunst und das Bücherstudium interessiert, bleibt untätig.

-          Kunst begünstigt die Bildung, die Montesquieu - ebenso wie andere Aufklärer - als eine wesentliche Aktivität sieht, die aus der rationalen Natur des Mensch selbst folgy. Dennoch ist den französischen Denkern bewußt, wieviel Anstrengung das Lernen kostet. Montesquieu betont die Wirkungskraft der Freundschaft in der Erziehung. Er hält es für ratsam, solche Gefühle zu zeigen, um die Anstrengungen der Erziehung abzumildern (Brief XV).

Die Entwicklung der Gesellschaft entsteht aus ihre inneren Tugenden; sie wird durch die Gesetze abgesichert, durch Freiheit, Gleichheit und Toleranz verteidigt und durch Handel und Künste angetrieben.

So wie die Tugend Wohlstand bringt Wohlstand Feinde mit sich. Es dauert nicht lange bis die Tugend mit Schwäche verwechselt wird. Feinde werden die wohlhabende Gesellschaft anzugreifen und zu erobern versuchen. Deshalb braucht die Gesellschaft zu ihrer Verteidigung Abwehrmechanismen. Montesquieu hält einen Krieg für gerechtig ist, wenn eine Gesellschaft oder ihr Bündnispartner angegriffen werden (Brief XCV).

3.      Im Hinblick auf die Gerechtigkeit präsentiert Montesquieu seine Kriterien im Brief LXXXIII. Der französische Autor erkennt, wie schwierig es für die Gerechtigkeit ist, die menschliche Leidenschaft zu überwinden. Ihm ist bewusst, dass die Ungerechtigkeit nie aus reiner Bosheit entsteht, sondern stets von Interessen geleitet wird. Es ist bemerkenswert, dass Montesquieu mit der Möglichkeit spielt, dass Gott nicht exisitiert. Im Gegensatz zu historisch späteren philosophischen Theorien, die behaupten „wenn es kein Gott gibt, ist alles erlaubt“, schlägt der aufgeklärte Montesquieu eine humanistische Ethik vor. Es sei nötig, die Billigkeit (equitas, equité) mit oder ohne Gott zu achten.

Die humanistische Ethik Montesquieus im Grunde die Antwort auf praktische Probleme. Keine Gesellschaft kann sich einen Grad der Unsicherheit erlauben, wo sich der Mensch nicht mehr unter Menschen, sondern wie gegenüber hungrigen Löwen fühlt.werden. Dort würde sich niemand mehr sicher fühlen. Nur dank der Billigkeit kann eine Gesellschaft überleben. Sonst wurden die ständige Angst, die Ehre und das Leben zu verlieren, sie zu zerstören.

Montesquieu erkennt am Ende des Briefe – trotz seiner vorherigen Überlegungen - Gottes Existenz an. Allerdings spricht er sich gegen das tyrannische Bild aus, das manche Theologen seiner Zeit von Gott zeichnen. Denn Montesquieu ist ja der Auffassung, dass die höchste Gerechtigkeit in der Billigkeit (equitas) liege.

4.      Chancengleichheit in der Gesellschaft: Gesellschaften zehren aus, wenn – wie Montesquieu sagt - die Sklaven nicht wirtschaftlich aufsteigen können und die Bediensteten keine Bildungsmöglichkeiten haben. Die gerechte Verteilung von Reichtum und Kultur fördert die Entwicklung einer Gesellschaft (Brief CXV).

In diesem Sinne wäre es nicht schlecht, wenn sich manche Länder mehr um die Bildung ihrer Bevölkerung kümmern würden, statt das Geld für extrem teure Rüstung auszugeben – die außerdem früher oder später benutzt werden wird, auch wenn nur deshalb, um ihren Preis zu rechtfertigen - , riesige Türme von Babel zu bauen und die Reichen noch reicher zu machen. All dies bringt nur Nachteile für eine Gesellschaft. Die Armen haben nichts und die Reichen fallen ungesunden Lebensweisen anheim, die maßloser Luxus mit sich bringt.

5.      Gleichstellung von Männern und Frauen: Aus orientalischer Perspektive liegt der Grund für die abgeschlossene Lebensform der Frauen in dem Umstand begründet, sie und ihre Tugenden vor der lasterhaften Außenwelt zu schützen.

Montesquieu beweist, dass dies nicht möglich ist, und außerdem nur Nachteile mit sich bringt. Die Anwendung externen Zwangs kann die Tugend nicht bewahren. Er ist davon überzeugt, dass es ein Irrtum ist, Frauen in Harems einzuschließen. Mögen die Laster der Freiheit an die Stelle der Laster der Knechtschaft treten. Mit dem Unterschied, dass die Freiheit die Tugend immerhin fördern kann, wohingegen die Knechtschaft sie stets verhindert.

Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen wird im Brief XXXVIII behandelt. Nicht viele Menschen besäßen Sinn für Gerechtigkeit (Brief LXXXVI). Die meisten ließen sich durch die Sitten tyrannisieren, die eine Mehrheit diktiert hat; vor allem in Bezug auf den Anstand.

Bürger sind nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Beide Geschlechter zusammen gründen Familien und bilden Gesellschaften. Montesquieu ist überzeugt, dass die Frauen die Dominanz der Männer nur aus Liebenswürdigkeit toleriert haben. In Wirklichkeit ist diese Aussage überflüssig. Dem französischen Denker ist bewusst, wie wichtig der Rolle der Frau in der französische Gesellschaft und in der französische Regierung ist.

Im Brief CVII Montesquieu schreibt, dass sich einige Männer in Persien beschweren, weil es drei oder vier einflussreiche Frauen im Königsreich gint. Diese Situation sei mit Frankreich nicht vergleichbar. Dort teilten sich die Frauen untereinander die Macht bis ins kleinste Detail auf.

Montesquieu ist nicht der einzige, der solche Beobachtungen schildert. Andere Autoren wie Marivaux, Molière und Corneille zeigen die Unabhängigkeit und Freiheit der Frauen. Sie alle erkennen die Vorteile, die dies der Gesellschaft einbringt. Nach Montesquieus Meinung sollen die Frauen Freiheit nicht nur in der öffentlichen, sondern auch in der privaten Sphäre genießen.

Der französische Autor verteidigt, dass die Frauen entscheiden durfen, wann und wen sie heiraten und wann sie sich scheiden lassen wollen. Eifersüchtige Ehemänner seien in Frankreich schlecht angesehen. Usbek erzählt, dass sie sogar Ziel des Hasses seien. Selten erleidet der Ehemann, der die Seitensprünge seiner Frau toleriert, Nachteile. Ganz im Gegenteil: Man lobt seineVernunft (prudence). Allerdings: Wenn eine Frau sich nicht an ihr Liebesversprechen hält, muss der Mann auch nicht die seinen respektieren.(Brief LV)

Montesquieu sagt wiederholt, dass die höchste Tugend nicht die sexuelle Enthaltsamkeit sei. Die Wahl des Partners bzw. seine Ablehnung müsse frei und ohne Hindernisse getroffen werden. Oft werde die Tugend mit veralteten Sitten verwechselt. Die soziale Übereinkunft müsse auch als solche behandeln werden. Sie dürfe nicht dazu benutzt werden, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu verhindern, noch moralischen Haltungen zu rechtfertigen, die von der Tyrannei der Tradition, der Religion oder der Starkëre diktiert wurden.

Um diese Situation zu vermeiden, unterscheidet Montesquieu zwischen privaten und öffentliche Tugenden. Dies wird in in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ (1748) deutlich. Dort stellt Montesquieu klar, dass sein Begriff der Tugend weder moralisch noch christlich, sondern öffentlich sei.

6.      Förderung der Geburtenrate. Montesquieu akzeptiert die Scheidung (Brief CXVI). In Bezug Abtreibung (Brief CXX) und Zölibat (Brief XXXVII) ist seine Haltung dagegen eine ganz andere. Der Grund dafür ist, dass beides die Fortpflanzung der Menschen verhindern.

Für den französische Schrifsteller bedeutet die Erhöhung der Geburtenrate eine der wichtigste Herausförderung einer Gesellschaft. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen er die Jungfräulichkeit der Frau für überflüssig hält. Dass eine Mehrheit sie als wertvoll betrachtet, überrasche indes nicht – sagt Montesquieu. Seiner Meinung nach gibt nämlich kaum gerechte Geister, sondern unendlich viele Kleingeister.

Freiheit und Gleichheit begünstigen das Bevölkerungswachstum (Brief LXXII).

7.      Ruhmesliebe. Sie darf nicht mit Ehrgefühl verwechselt werden. Letztere führe zu nutzlosen Duellen. Montesquieu gesteht der Ruhmesliebe eine unentberliche Rolle zu (Brief LXXXIX). Jedoch findet er es lächerlich, Ehre einzufordern (Brief XC).

Montesquieu legt die notwendigen Werte dar, die eine Gesellschaft braucht. Dabei verbirgt er jedoch nicht seinen Pessimismus über die menschliche Natur. Nach Montesquieus Ansicht sind es gerade die durschnittlichen Menschen, die Erfolg haben.

Die intelligenten und geistigen Menschen dagegen seien immer unbequem. Sie haben enge Freundschaftskreise und vermeiden die Masse. Sie kritisieren ständig die Gesellschaft, in der sie leben, weil sie bemerken, was für andere unbeachtet bleibt. Sie schenken den Einzelheiten, von denen der Erfolg in der Gesellschaft anghängt, kaum Aufmerksamkeit.

Die weisen Menschen sind in einer noch schlechteren Position als die geistige Menschen. Oft werden sie all ihre Güter beraubt, aus der Gesellschaft verbannt und wegen Hexerei verurteilt (Brief XLV).

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Montesquieu könnte als feministicher Denker bezeichnet werden. Das Thema der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau interessiert ihn sehr.

Montesquieu lehnt es ab, dass Frauen eingesperrt leben sollen, um ihre Tugenden zu beschützen. Das führe die diesem Schiksal Unterworfenen dazu, die Täuschung zu praktizieren. Die Lüge verhindert jede mögliche Art von Kommunikation und korrumpiert letztlich das soziale Überleben.

Montesquieu ist davon überzeugt, dass die sexuelle Enthaltsamkeit und die Treue zum Bereich der Moral und Religion gehören. Deshalb seien sie private Angelegenheiten, die das öffentliche Leben nicht berühren dürfen.

Niemand habe das Recht, sich in die außerehelichen Beziehungen einzumischen. Noch nicht einmal die betrogenen Ehemänner und Ehefrauen.

Ich muss zugeben, dass ich in diesem Punkt mit dem französische Denker in keiner Weise übereinstimme. Die Tugenden können nicht in private Tugenden und öffentliche Tugenden unterschieden werden. Auch dürfen sie nicht in zwei Sphären – eine private und eine öffentliche- differenziert werden. Die Tatsache, dass die Tugend von diesen Adjektiven begleitet wird, bricht ihre Einheit nicht auseinander. Genauso wenig wie eine Frau sich verändert, wenn sie mit der Eheschließung den Nachname ihres Mannes annimmt.

Montesquieu selbst erkennt das in seinem Buch „Vom Geist der Gesetzte“ an, wenn er schreibt, dass „die moralischen und christlichen Tugenden nicht aus der Monarchie ausgeschlossen sind, genauso wenig wie die politische Tugend. In einem Wort: Auch wenn die politische Tugend die Republik antreibt, ist doch die Ehre ebenfalls in ihr enthalten. In gleicher Weise gilt: Auch wenn die Ehre die Triebfeder der Monarchie ist, ist zugleich die politische Tugend in ihr enthalten.“ Trotzdem kehrt Montesquieu wieder zu seiner Unterscheidung zwischen politischen und privaten Tugenden zurück, indem behauptet, dass der gute Mensch nicht der christliche Mensch, sondern der öffentliche sei.

In den „Persischen Briefe‘ akzeptiert Montesquieu, dass die private und öffentliche Sphäre nicht radikal getrennt sein können. So sei die elterliche Autorität essentiel für die Kindererziehung. Da die elterliche Autorität zu Hause ausgeübt werde  –das heißt im privaten Bereich – ist es nötig, dass die Eltern allgemeine Tugenden ohne Adjektive haben. Nur so können sie ihren Kindern die Tugenden richtig weiter vermitteln. Anderenfalls werden die Kinder nur die Unstimmigkeit der Doppelmoral erben. Erstaunlich finde ich die Anstrengungen der aktuellen Gesellschaft, ihre Jugend glauben zu machen, dass die Eltern die schlimmsten Feinde ihrer Kinder sind.  Nur wenn die Eltern ihnen alles erlauben, sind sie gute Eltern. Was als strategisches Marketing der Filmindustrie angefangen hat, ist eine akzeptierte Wahrheit geworden. Die Eltern sind ratlos. Die schlechten pendeln zwischen unverantworlicher Freizügigkeit und (physischer oder psychischer) Misshandlung. Die guten Eltern quälen tiefe Zweifel an ihren erzierischen Fähigkeiten.

Ich habe den Eindruck, dass die Unterscheidung in private und öffentliche Tugenden zunächst als Damm gegen soziale Vorurteile und religiöse Tyrannei dienen wollte. Am Ende aber hat sie zwei schädliche Effekte verursacht. Ein Effekte war die Verbreitung der Doppelmoral. Der andere ist die naive Glaube, dass die private Zügellosigkeit nicht den öffentlichen Tugenden schade.

Ehrlich gesagt ist es für mich schwer zu verstehen wie ein Mann (Frau), der (die) nicht seinen (ihren) Ehevertrag respektiert einen anderen Vertrag – ganz gleich welcher Art - respektieren kann. Wie kann ein Man (Frau), der (die) auf seine (ihre) privaten Tugenden nicht achtet, auf die öffentlichen Tugenden achten? Meiner Meinung nach geht Montesquieu zu weit. Er bleibt nicht bei der vernünftigen Verteidigung der Ehescheidung. Er sieht sogar die Seitensprünge der jeweiligen Ehepartner als zulässig an. Ich habe meine Zweifel, dass außereheliche Affären die ehelichen Beziehungen nicht beeinträchtigen. Es sei denn, dass die Ehe bloß auf Interessen beruht.

Es ist nicht meine Absicht, den Rückzug  der Frauen in ein Kloster oder den Schleier für ihre Köpfe zu beanspruchen – selbst wenn sie bereit wären, die eine oder  die andere Variante freiwillig zu unternehmen.

Eine Sache ist es, dass Menschen sich mehrmals in ihrem Leben verlieben, etwas anderes ist aber die Leichtsinnigkeit und Frivolität, mit der die Liebesbeziehungen heutzutage behandelt werden. Bis zu dem Grade, dass wir ohne jede Scham die Vereinigung der Körper vor die Vereinigung der Seelen setzen. Ah! Entschuldigung. Ich hatte vergessen, dass wir keine Seele haben.

Aber haben wir nicht immer noch ein Gehirn? Deshalb fehlt es sehr schwer zu erklären, warum so viele Beziehungen erst körperliche und erst darauf  – wenn überhaupt – geistige sind. Das ist genauso unverständlich wie die Tatsache, dass es viele Menschen gibt, die Alkohol und Drogen brauchen, um Spaß zu haben. Öffentsichtlich sind sie nicht in der Lage, allein mit ihre Intelligenz –ohne äußerliche Hilfe - eine Party zu genießen.

Im Fall der Frauen sind die Konsequenzen der Leichtsinnigkeit noch graviender, weil sie die Mütter der zukünftigen Bürgern sein werden.

Es ist wichtig, dass sie sich um ihre geistige und körperliche Gesundheit kümmern. Das solche Ideen durch Faschismen missbraucht worden sind, beraubt sie nicht ihrer Gültigkeit. Auch nicht die Tatsache, dass die Hellenische und Römische Kultur durch den italienischen Faschismus entweihen worden sind, mindert nicht ihren Wert.

Niemand leugnet, dass die Situation unter der die Frauen früher gelitten haben, unerträglich war. Falls sie nicht ihre Jungfraulichkeit vor der Ehe bewahren hatten oder alleinerziehende Mütter waren , oder sie ihren Mann aus dem einfache Grund, dass sie ihn nicht mehr ertragen konnten, verlassen hatten,  wurde sie sofort aus ihrer Familie und ihrem Dorf verbannt. Sie war allein auf ihr Glück angwiesen. Und wir alle wissen, welches Glück auf sie wartete.

Aber man muss auch akzeptieren, dass die Vorbilder für Frauen, die die heutige Medien anbieten,  sozial und familiäre Ungleichgewichte verursacht.

Man nimmt mit Gleichgültigkeit hin, dass eine verheiratete Frau mit Kindern ein erotisch-pornographisches Video von sich selbst aufnimmt und weiter an andere Personen leitet. Die  Empörung kommt nur, wenn ein solches Video eine großere Verbreitung als die gewünschte erreicht. Die Teilnehmer im  Wettbewerb „Big Brother“ lassen den Eindruck erwecken, dass es zur Normalität gehört, sich vor laufender Kamera im Bett zu küssen. Dass jede und jeder von ihnen einen Partner  (eine Partnerin) außerhalb der Filmkulisse hat, ist irrelevant. Wichtig ist allein, dass die freizügigen Protagonisten – wenn auch nur für kurze Zeit – eine gewisse Berühmtheit erlangen und die Einschaltquote der Sendung so hoch wie möglich steigt.  Es wird gelassen hingenommen, dass  einander unbekannte Personen untereiander ihre intimsten Probleme in den Medien vor den Augen der Öffentlichkeit ausbreiten. Schließlich ist es bekannt, dass die Gefühle heute so sind und morgen wieder anders. Es ist deshalb einerlei, was man heute sagt. Morgen wird sowieso alles anders sein.

Ich vermute, dass sich auf diesem Weg die Sitten der orientalischen Frauen oder der extremistischen religiösen Gruppen schneller als gedacht durchsetzen werden. Ich vermute, dass Montesquieu die sozialen Vorurteile, die die Freiheit der Frau verhinderte, brechen wollte. Trotzdem ist es zweifelhaft, dass er mit der heutigen Situation einverstanden wäre. Einerseits beteiligen sich die Bürger immer seltener in politischen Angelegenheiten. Anderseits fühlen die Bürger immer weniger Scham, ihre Intimität in der öffentliche Sphäre zu zeigen. Die Konsequenzen haben nicht lange auf sich warten lassen. Die ernsteste und  schwerwiegendste ist die Zerstörung der Familie, Grund jeder Gesellschaft in Montesquieuschen Philosophie.

Es ist Zeit, dass wir einige Prämisse betrachten.

a)      Die Zugehörigkeit der Menschen zur Welt der Natur verwandelt sie nicht in irgendwelche Tiere (Tiger und Löwen kämen nicht auf die Idee sich wie ein Wurm zu verhalten).

b)      Der Mensch ist Leib und Seele oder wenigstens Leib und Gehirn. Wie die Römer schon sagten: „mens sana in corpore sano“. Viele glauben, dass nur weil sie jeden Tag Sport treiben und sich mit Gemüse und Obst ernähren (ökologisch, wenn es geht) alles korrekt gemacht haben. Sie vergessen dagegen gerne das Thema des Alkohols und der Droge - oft mit der relativierenden Ausrede, dass man ja auch nicht übertreiben müsse. Es gehe ja nicht darum  –sagen sie - wie Nonnen oder Mönche zu leben.

c)      Es ist wahr, dass Frauen und Männer zusammen die Gesellschaft bilden, aber diejenigen, die die Jungen erziehen – ganz gleich, ob man dies so will - sind immer noch hauptsächlich die Frauen. Die Erziehung, die die Frauen bekommen, wird daher die Richtung einer Gesellschaft bestimmen.

Ehrlich gesagt glaube ich, dass die Fernsehserien, die aus den Vereinigten Staaten zu uns kommen keine der oben genannten Prämisen erfüllen. Die Vorbilder, die sie darstellen, sind für junge und noch nicht ausgebildete Charaktere nicht angemessen. Statt sie zu erziehen, verderben sie sie.  Säkulare Eltern können ihre Kindern nicht retten, weil sie keine moralische Autorität mehr besitzen; ultrareligiöse Eltern sind - wie gewöhnlich - in ihren eigenen ideologischen Ghettos eingeschlossen.

Die Wirklichkeit ist schmerzhaft. Außer in den für die heutige  Jugendliche vorsintflutlichen Serien: „Unsere kleine Farm“ und „Remington Steele“  kenne ich keine andere Fersehenserie, in der die Frauen ein Vorbild für die jugendlichen Zuschauerinnen sein könnte. Wenn wir allerdings überlegen, dass „Unsere kleine Farm“ das Dorfleben im Amerika des 19. Jahrhunderts erzählt, und dass in „Remington Steele“  die Chefin der Detektivagentur einen Strohmann als Chef einstellen muss, weil sie als Frau sonst keine Aufträge bekommt, müssen wir zugeben, dass diesen Serien ihrern Zuschauerinnen auch nicht gerade ein viel versprechend Panorama bieten. Entweder müssen sie in vergangene Zeiten zurückfliehen oder sie müssen ihre Intelligenz hinter der männlichen Schulter verstecken.

Die andeen Serien zeigen eine noch trostlosere Perspektive. Einige stellen süße und stets verständnisvolle Frauen dar. Sie kümmern sich um den Haushalt. Sie backen leckere Kuchen für ihre Männer und immer, wenn sie sich mit ihnen unterhalten, benutzen sie den Humor, um zu beweisen, dass ihre Männer dümmer als sie sind (in den 70 Jahre zum Beispiel „Verhext“). Anderen Serien greifen auf  manichäistische Muster zurück. Sie übersetzen  die alte Unterscheidung „brave Mädchen/unanständige Mädchen“ in eine neue Variante:  „vernünftigen Mädchen / Party girls“.

Die Unterschied zu den alten Zeiten liegt darin, dass früher die braven Mädchen hoch geschätzt waren. Heutzutage erscheinen sie dagegen als langweilig und naiv. Sie sind die großen Verliererinnen geworden. Ihre Gutmütigkeit schleppt sie in die  Depression, Einsamkeit oder den finanziellen Ruin. Sie bleiben allein mit ihren altmödischen Werte  – oder müssen die einengen de Gesellschaft einer religiösen Gruppe suchen.

Allem Anschein nach denken viele, dass wenn es keinen Gott auch keine Prinzipien mehr gibt. „Wozu nur?“ –fragen sie erstaunt.

Es gab Versuche, die brave Mädchen zu retten. Ein paar Serien wendeten folgenden Plot an: Arroganter Schnösel mit leerem Kopfe, die nur auf sein „Image“ bedacht ist, wird durch das brave Mädchen überwunden.

Die traurige Wahrheit ist allerdings, dass das Marketing-Imperium die Vorherrschaft der „party girls“ abgesichert hat. Derzeit werden sie nur durch die „It-girls“ übertroffen. Letztere haben kein Problem damit, ein bloßes – und perfektes - Objekt zu werden. Sie erscheinen in der Öffentlichkeit meisterhaft gekleidet – oder entkleidet. Sie werden in Serien und Reality Shows, wie Gossip Girl, Jersey Shore, Gandia Shore oder sogar Big Brother poträtiert.

Die „it-girls“ verhalten sie sich wie in Zellophanpapier verpackte Fleischstücke. Statt ihre sinnlichen Instinkte als „sinnliche Instinkte“ zu benennen, bezeichnen sie sie als „ihren eigenen Lebensstil“. Komisch eigentlich. Sie alle sind Klone: Sie bewegen sich auf die gleiche Weise; sie benutzen die selben Farben und Marken, um sich zu schminken; sie gehen in die selben Läden zum shoppimg und sie verwenden die selben Redewendungen. Trotzdem haben sie die Fähigkeit zu behaupten –ohne mit der künstlichen Augenwimper zu zucken – wohl damit sie nicht herausfällt –, dass sie „einen eigenen Lebensstil“ - vor allem „eigenen“ - haben. Es ist besser, wenn wir das Wort „Lebensstil“ übersehen. Glauben Sie mir: Wir ersparen uns schreckliche Kopfschmerzen.

Es ist mir bewußt, dass es unter solchen Umstände sinnlos ist, an die Selbstverantwortung oder das „Sapere Aude“ zu appellieren. Warscheinlich ist es auch schwierig zu erklären, dass es auch eine Freude geben kann, die nicht aus dem Konsum enspringt, oder dass die Ehe eine spannende Herausforderung ist, weil sie eine Gütergemeinschaft ist, in der sinnliche Liebe und seelische Affinität zugleich vorkommen. Deshalb spielt die Treue eine so wichtige Rolle. In der Ehe dürfen die Gefühle nicht kapriziös werden, da sie der Entwicklung eines gemeinsames Projekt dienen. Es muss in der Tat  nicht nur ein gemeinsames, sondern auch ein freiwilliges Projekt sein. Aber wie in jedem Projekt muss der Glaube an den Erfolg dieses Projekt existieren, der Wille, das Projekt zu realisieren und die vernünftige Analyse, dass es möglich ist,  dies zu schaffen.  Die Ehe beruht indes auch auf Gefühlen; und wenn diese nicht mehr existieren, dann verblasst das Projekt. Deshalb finde ich es so zynisch wie falsch zu behaupten, dass das  private Verhalten keine politischen Konsequenzen für die Entwicklung und Förderung einer Gesellschaft verursache. Wenn jemand heutzutage in der Öffentlichkeit behaupten würde, was ich gerade gesagt habe, würde er als lächerliche Figur angesehen werden. Die Zuhörer wurden nicht wissen, ob er extrem religiös oder einfach ein Spinner wäre. Montesquieue fand trotz allem in der Familie den Grund und die Stütze der Gesellschaft.

Keine der alten Hexen und Nonnen hätte wohl je geglaubt, dass die Befreiung der Frau und die Liberalisierung der Gesellschaft bloßen Hedonismus mit sich bringen würde.

Wenn das größte Erstaunen des Westens sich daran fest macht, dass viele islamische Frauen ihre Körper freiwillig verhüllen, selbst wenn sie berufstätig sind und sogar verantwortungsvolle Stellen besetzen, ist das größtee Erstaunen des Ostens, dass viele westliche Frauen ihre Energien darauf verwenden, ihre Kater zu behandeln und die Männer statt die Macht zu erobern.

Ist die Zerstörung der Frau und der Mutter das Produkt der Dekadenz oder der Freiheit? Sagen sie mir bitte nicht das Freiheit Dekadenz mit sich bringt. Dies würde ich niemals akzeptieren. Montesquieu hat  die Unrichtigkeit einer solche Behauptung hinreichend gezeigt und begründet. Ist die gegenwärtige Frau vielleicht wie die Frau im alten Rom, die, sobald sie die ökonomische Unabhängigkeit erreicht hatte, kaum noch Kinder bekommen hat? Haben wir es vielleicht mit einer Verschwörungstheorie zu tun, von der  meine Freundin Carlota (siehe meinen Blog „Die Welt und ich – eine Reflexion über Verschwörundtheorien“) gesprochen hat, nach der die Gesellschaft keinen Nachwuchs mehr bekommen soll? Muss man die Frauen eingesperrt halten, damit sie lernen, Person zu sein, statt eine nur „party-girl“, das sich nur für Champagner, Kaviar und Nagellack interessiert? Ist das vielleicht die wahre Natur der Frau?

Weiß jemand, wo die alten Hexen und Nonnen sind? Jene ungehorsamen Frauen, die sich über die Männer lustig gemacht haben , sich verweigert haben, Mütter zu sein, weil sie sich lieber den Büchern und dem Studium widmen wollten?  Wo sind jene Frauen geblieben, die ihren Weiblichkeit eingesetzt haben, um Macht zu erreichen, statt die „Celebrity“ des Dorfes oder die Unterhaltung der Masse zu werden?  Warum wollen die jungen Mädchen „party-it girls“ statt „Madame Curie“ sein? Warum machen die Medien mit?

Ich hoffe, dass diese emotionale Verwirrung, an der die Frauen  derzeit leiden, nicht denen als Vorwand  dient, die die Frau in Unbildung und Aberglaube fesseln wollen.

Ich weiß, dass einige von Ihnen jetzt denken werden, dass die „Persische Briefe“ politische und juristiche Themen behandeln, die weitreichender als die Frauenproblematik sind. Aber was wollen Sie? La cabra tira al monte. Ich kämpfe dagegen, dass weder die andere Frauen noch ich unseren Leben in einem Harem – wie tugendhaft und luxuriös er auch sein mag - enden.

Einige Male habe ich den Verdacht gehabt, dass jemand die Frauen auf die selbe Insel verbannt hat, auf die auch Pinocho gebracht wurde. Zuerst bekommt man alle Süßigkeiten und dann... Es stört mich ungeheuer, dass Montesquieu  - als Mann – nur das als private Tugend betrachtet, was in den Schlafzimmern geschieht.

Haben sie es bemerkt? Die Prediger hören nicht auf, darüber zu reden, dass die Unterdrückung der sinnlichen Instinkte die einzige Tugend wäre. Dem widerspreche ich vehement. Aber auch die Philosophen unterdrücken die sinnlichen Instinkte, soweit sie behaupten, dass sie für die öffentliche Gesellschaft keine Rolle spielen und sie damit ”privatisieren“. Ich bin dagegen überzeugt davon, dass die privaten Geschehnisse unserer Schlafzimmer sehr wohl Konsequenzen für die öffentliche Verfasstheit unserer Gesellschaft haben.

Warum predigen die einen die Unterdrückung der sinnlichen Instinkte und die anderen deren Privatisierung,  frage ich mich. Wahrscheinlich, weil beide – Prediger und Philosphen - auch „nur“ Männer sind. Die einen dürfen nicht und die anderen wollen ohne schlechtes Gewissen.

„C’est en cherchant à instruire les hommes, que l’on peut pratiquer cette vertu générale qui comprend l’amour de tous. L’homme, cet être flexible, se pliant, dans la société, aux pensées et aux impressions des autres, est également capable de connaître sa propre nature lorsqu’on la lui montre et d’en perdre jusqu’au sentiment lorsqu’on la lui dérobe. »

 

Bis zur nächsten Woche !

Isabel Viñado Gascón


 

 

 

 

 

Sonntag, 11. November 2012

ANTIGONE (1944) Jean Anouilh


Die selbe Geschichte, die selbe Tragödie, die schon Sophokles geschrieben hat, jedoch mit anderen Dialogen. Als ob damit die Geschichte verändert werden könnte – wenigstens ihr fatales Ende.

Die Frage Jean Anouilhs in „Antigone“ ist dieselbe Frage, die Tschechow in seinem Theaterstück „Onkel Wanja“ aufwirft.  Muss man arbeiten (Tschechow), leben (Anouilh), auch wenn das Ziel sich nicht lohnt?

„Ja“, antworten die beide.

Beide Schrifsteller sind einverstanden: Das Leben hat keinen Sinn. Alles was uns umringt ist absurd. Das Leben ist ein Weg, der ins Nichts führt. Gleichviel: Man muß weiter gehen, immer weiter. Im Fall von Wanja sublimiert die Arbeit die Verzweiflung angesichts der Sinnlosigkeit der Existenz und gibt ihr eine Bedeutung. Das kann der Mensch allerdings nur mit Hilfe bestimmter Mechanismen erreichen.

Die Tugend der Veranwortung zwingt Kreon die Rolle zu akzeptieren, die ihm zugeteilt worden ist. Damit verpflichtet er sich, eine Aufgabe durchzuführen, für die er keine Neigung verspürt. Er entscheidet sich dafür, seine Rolle zu erfüllen, auch wenn er damit den nur pragmatischen und unsympathischen Diktator verkörpert. Seine Funktion zu vollzuziehen, ist das Wichtigste - nicht Gründe hierfür zu finden.

Kreon vertraut Antigone die Wahrheit an: Ihre beiden Brüder waren unverschämte und faule Kerle. Ihre einzige Beschäftigung war es zu trinken und dem Königreich Probleme zu bereiten. Wenn der eine als Held gilt und der andere als Verräter, dann nur, um dem Volk zu gefallen. Deshalb wäre es unklug der beiden Brüder wegen zu sterben, die nie an etwas anderes als an ihren eigenen Vorteil gedacht haben.

Antigone versteht ihren Onkel. Sie weiß, dass er recht hat. Trotzdem hält sie an der Idee des Todes fest. Wie eine Märtyrerin, die das Martyrium um des Martyriums willen sucht; nur weil sich das Martyrium dem Leben entgegensetzt. Antigone will sterben – ganz gleich aus welchem Grund. Koste es, was es wolle. Das ist ihre Rolle.

Es wird nicht sehr lange dauern, bis sie einen neuen Anlass für ihre Selbstopferung findet, diesmal unwiderleglich. Antigone kommt zu dem Schluss: Wenn – wie Kreon sagt - das glückliche Leben aus einer bloßen Abfolge von Selbsttäuschungen besteht, dann ist  es besser zu sterben. Für Antigone stellt der Tod die letzte Wahrheit dar.  Die radikale und absolute Wahrheit. Nur die Wahrheit ist authentisch. Deshalb ist der Tod ein Akt der Authentizität.

Antigones Tod stürzt Hemon, Kreons Sohn, in Verzweiflung. Er fühlt sich nicht in der Lage, ohne sie zu leben und stirbt neben ihr. Hemons Tod bringt seine Mutter – die Frau des Tyrannen - zum Selbstmord.

Drei Menschen sind gestorben. Drei. Die beiden letzten Tode hätten vielleicht verhindert werden können. Der erste Tod aber – der einzige unvermeidliche – hat sie mit sich in den Absturz gezogen.

Jedoch hat Antigone damit nichts erreicht. Wie Kreon sagt:  sterben müssen wir alle. Auch wenn er die drei Menschen, die er am meisten liebte, verloren hat und sein Herz zerstört ist, bleibt er doch weiter an seiner Stelle. Er verlässt seinen Posten nicht. Die drei Toten haben schon ihren Frieden und ihre Ruhe. Hier auf der Erde aber sind noch viele Aufgabe zu erledigen.

Die Wächter sind die einzigen, die an dem Konflikt unbeteiligt sind. Sie verkörpern das Volk, die normale Leute, die unmittelbaren Seelen. Sie jammern, wenn sie kein Brot haben, und sind zufrieden, wenn sie es haben.

Sie machen sich Sorgen nur um ihre alltäglichen Probleme. Neben der Nahrung sind dies der Lohn und das Kartenspiel –das heißt: die Freizeit.

Ihre Rolle besteht darin, den Tyrannen zu unterstützen oder zu vernichten, je nachdem wer einen höheren Sold bezahlt. Politische Prinzipien spielen keine Rolle.

Sie gehorchen Kreon bis ein stärkerer Tyrann erscheint. „Augenblicklich dienen sie Kreon, bis sie ihn eines Tages auf Befehl irgendeines neuen Chefs von Theben seinerseits verhaften werden“. Die meisten Leute stellen nicht in Frage, wem sie dienen. Sie denken nur an ihre eigenen Interessen.

Vielleicht besteht darin, Mensch zu sein. Die Tragödie betrifft nicht den normalen Menschen - die Menschen aus Fleisch und Blut. Die Tragödie ist Angelegenheit der Götter und der von den Göttern verurteilten Menschen. Brecht irrt sich, wenn er die Tragödie aus ihrem eigenen Charakter zu entblößen versucht. Die Tragödie enflieht der Domäne der Menschen. Sie gehört zum Schicksal, das für die Helden vorbestimmt worden ist. Der Versuch des deutschen Schrifstellers, die Tragödie in Drama umzuwandeln, zerstört nicht ihre intrinsische Natur. Genauso wenig wie die Leugnung der Realität sie verändert, auch wenn viele zweifellos das möchten.

Aus Anouilhs Antigone kann man einige Merkmale der Tragödie ableiten.

 Erstens: In der Tragödie kann man nicht über Schuldige sprechen. Jeder muss seine entsprechende Rolle akzeptieren und ausführen. In dem Fall, der uns beschäftigt, muss Kreon der Gemeinschaft dienen, obwohl er lieber in der Einsamkeit seines Zimmers geblieben wäre. Dennoch muss er sich selbst vergessen und auf seine Lebenswünsche verzichten. Antigone ihrerseits muss die Authentizität bewahren. Daher bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu sterben.

Dieses „sterben zu müssen” ist absolut. Es ist unabhängig von irgendwelchen Gründen. Gerade dies ist das Schreckliche und was die Tragödie vom Drama trennt. In der Tragödie gibt es nie Gründe. Deshalb kann auch nicht zwischen „schuldig“ oder „unschuldig“ unterschieden werden. In der Tragödie dagegen handeln nur Unschuldige, die ihr Rolle ausführen.

Zweitens: Die Entwicklung der Handlung könnte modifiziert werden, wenn die Antwort, die jede Person in Funktion ihrer Rolle gibt, korrigiert werden könnte. Unter dieser Hypothese können wir uns sogar eine Antigone vorstellen, die in der Lage ist, ihren Onkel Kreon zu verstehen. Die Situation, in der sich der Tyrann von Theben befindet ähnelt nämlich der Situation, in der sich Mütter befinden. Auch sie stehen wie Kreon vor der Anforderung, auf die eigenen Wünsche im Interesse anderer zu verzichten.

Aber: Die „Antigone“ von Anouilh – wie die „Antigone“ von Sophokles - ist von den Götter verdammt. Sie ist in ihre eigenen Ansätze eingeschloßen. Deshalb ist es ihr unmöglich, die persönliche Tragödie Kreons zu verstehen, die darin liegt, seine Vorliebe zum Bücherstudium zu opfern, um die Last der Regierung auf sich zu nehmen. Antigone ist überzeugt, dass ein solcher Verzicht absurd ist.

Ist Antigone egoistisch oder nur authentisch? Besteht ein Unterschied zwischen beiden Begriffen?

Das „Nein“ der Antigone von Anouilh ist ein radikales „Nein“ allem gegenüber, was sich als Hindernis für die absoluten Freiheit und die Entwicklung des Individuums darstellt. Es ist eine Ablehnung der Grenzen, die die Gesellschaft auferlegt. Antigone ist bereit, den dafür verlangten Preis zu bezahlen: den Tod.

Diese Haltung ist aus sich heraus nachvollziehbar. Antigone vertritt die Postmodernität in ihrer reinsten Form. Für diese philosophische Auffassung bedeutet das Leben von Anfang an nicht eine Möglichkeit, sondern eine Einschränkung für die essentielle Entwicklung unseres „Ich“. Mit der Zeit wachsen die Verantwortung und die Verbindlichkeiten. Damit vermehren sich auch die Begrenzungen für die Freiheitsausübung des Menschens.

Diese Situation ist für Antigone unerträglich. Für sie - und für alle die wie sie denken - ist Freiheit eine unaufhörliche Obsession. Der Tod – die absolute Negation, die absolute Unmöglichkeit des Seins - ist gleichzeitig die absolute Verweigerung der Grenzen und deshalb die absolute Freiheit.

Das  „Nicht-Sein“ kann dem „Sein“ Ketten anlegen. Hierin liegt der Sinn des Todes in Antigones Gedankenwelt.

Kreon wiederum ist nicht imstande,  Antigones Haltung zu verstehen. Aus seiner Sicht führt die Besessenheit in Bezug auf die individuelle Authentizität unerbittlich zum Untergang des Schiffes. Das Schiff ist eine Metapher die Kreon zur Bezeichnung des Gemeinwesens verwendet. Ist das Schiff aber wichtig genug, um das individuelle Glück zu opfern?  Vielleicht nicht. Aber Kreon akzeptiert dennoch seine Rolle als Lenker des Schiffs: „Es muss doch einer da sein, der das Schiff steuert.“ Er muss seine Arbeit durchführen, auch wenn sie Anstrengungen, Schweiß und Tränen mit sich bringt. Seiner Meinung nach ist der Tod stets nutzlos.

Wer von beiden hat recht? Die Toten, vergessen und frei? Die Lebendigen, müde und erschöpft? Beide. Keiner. Es ist gleichgültig.

Gerade hierin liegt das zweite Elemente der Tragödie. Die Personen können keinen „modus vivendi“ finden, um die Situation gemeinsam zu beheben. Es gibt keinen Punkt für den Brückenschlag zwischen ihren verschiedenen und radikalen Positionen.

Dieses Theaterstück zeigt, was schon einst Sophokles gezeigt hat – wenngleich schüchtern und unzureichend: eine doppelte Tragödie. Die Tragödie derjenigen, die von den Götter zum Sterben verurteilt sind, und die Tragödie derjenigen, die von den Götter erwählt worden sind, um dieses Urteil zu verhängen. Kreon muss die Rolle einnehmen, die er auf keinen Fall gesucht hat. Allerdings hat er sich ihr gegenüber nicht verweigert. Schließlich müsse sich jemand um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern. Darin liegt sein Beruf. „Man kann sich zwar darüber streiten, ob man ihn ausüben soll oder nicht. Aber wenn man ihn ausübt, dann schon richtig.“  Dafür ist es nötig, nicht nur auf die eigenen Wünsche zu verzichten, sondern sogar auf die eigene Wesenheit. „Da kann man nicht mehr lange fragen, ob man es nicht eines Tages teuer bezahlen wird oder ob man nachher überhaupt noch ein Mensch sein kann.“

Kreon hat seine Rolle nicht gewählt. Eigentlich hat er gar keine Lust, das Schiff zu steuern. Aber jemand hat es zu tun. Man kann das  Schiff nicht untergehen lassen. König zu sein, bedeutet nicht Rechte und Privilegien zu genießen, sondern Pflichten zu erfüllen. Die Pflicht ist wichtiger als die individuellen Wünsche. „Und du selbst bist an das Ruder geklammert – namenlos.“

Anouilh versucht den moralischen Zwiespalt  des verantwortungsbewussten Regierenden zu zeigen. Er kann sich nicht den Luxus erlauben, authentisch zu sein. Die Pflicht gegenüber dem öffentlichen Angelegenheiten setzt sich als Priorität durch.

Der Unterschied zwischen Kreon und Antigone liegt darin, dass  Kreon „Ja“ zur Verantwortung und Antigone „Nein“ dazu sagt.

Man könnte auch behaupten, dass Kreon „Nein“ zur Authentizität und Antigone „Ja“  dazu sagt.

Auf jeden Fall bedeutet Leben, die existentielle Authentizität zu opfern.  Dies noch viel mehr im Fall von Kreon. Er ist tief davon überzeugt, dass er im Dienste einer faulen und undankbaren Gesellschaft arbeitet.

Antigone kann das nicht akzeptieren. Das würde Verrat an uns selbst bedeuten. Deshalb sei der Tod vorzuziehen. Nur er öffne die Tür zur absoluten Freiheit und Authentizität.

Anouilh zeigt, dass Kreon dennoch nicht auf alles verzichtet. Es gibt ein Prinzip, das seine Authentizität bewahrt: das Verantwortungsprinzip. Dieses Prinzip ist der Motor, der Kreon trotz allem weiter nach vorne treibt.

Es ist wahr, dass das Leben keinen Sinn hat. Der Schiffsbesatzung ist nicht bewusst, wieviel Mühe die Steuerung des Schiffs duch den Sturm verlangt.  Es zählen weder die Besatzung, noch der Schiffslenker. Nur eines zählt: Das Schiff durch den Sturm zu retten. „Nur das Schiff und der Sturm haben Namen.“

Kreon gibt im Ergebnis sein individuelles Leben zugunsten eines Lebens der Polis gewidmeten öffentlichen Lebens auf. Wissend, dass sie ihm nichts anderes als Undankbarkeit zurückgegeben wird. Diese Tatsache aber übt keine Einfluss auf Kreon aus. Denn er ist davon überzeugt, dass die Bevölkerung einen Steuermann braucht.

Kreons reflexive Zwiespältigkeit in Bezug auf seine öffentliche Funktion ist so authentisch wie sein Verantwortungsbewusstsein. Am Ende bewundert der Leser die Ergebung und die Hingabe, mit denen er seine Aufgabe erfüllt.

Antigone dagegen tritt uns als Repräsentantin einer absoluten wie unproduktiven Authentizität entgegen.

Die  anouillhsche „Antigone“ ist ein Manifest gegen den nutzlosen Tod, gegen die falschen romantische Gefühle, die letztlich zerstörisch sind und oft nur Lebensängste verbergen.

Bemerkung

Viele Literaturkritiker wollen in Kreon ein Symbol der Nazi-Diktatur und in Antigone die französische Resistence sehen.  Ich weiß nicht, wer der erste war, die das behauptete. Auf jeden Fall klingt die Idee gut. Vor allem weil dieses Theaterstück 1944 geschrieben worden ist. Ich habe das Stück mehrere Male gelesen. Glauben sie mir: Ich habe noch nicht mal eine einzige Passage gefunden, die eine solche Interpretation stützen.

Meiner Meinung nach sind die Themen, die Anouilh zeigt, einerseits das Problem der Existenzes und der Grenzen, die das Leben der Authentizität setzt, und andererseits die absolute Unmöglichkeit, die Rolle zu wählen, der wir im Leben darstellen müssen. Das heißt, unser Verhalten ist von Anfang an bestimmt. Die Politik dient Anouilh lediglich als Vorwand , diese beiden Themen ins Spiel zu bringen, ist aber nicht der zentrale Aspekt.

Entscheidend ist, dass Kreon auf die Authentizität zugunsten der Verantwortung verzichtet. Er möchte sich lieber den Bücher zuwenden, muss aber die Stadt Theben regieren, weil dies seine Pflicht ist.

Antigone repräsentiert die absolute Authentizität, muss aber auf ihr Leben verzichten, gerade weil das Leben mit absoluter Authentizität unvereinbar ist.

Wenn es stimmte, dass Antigona die französische Resistence verkörpert, dann würde diese in Anouilhs Stück ein wahrlich schlechtes Bild abgeben. Bei Anouilh sorgt sich Antigone mehr um ihre individuelle Authentizität als um die kollektive Freiheit. Mit ihrem Tod will sie weder den Tod ihrer beiden Brüder – zwei faule Narren -  noch den Tyrannen stürzen. Antigone will allein ihre absolute Authentizität, auch wenn das die absolute Starrheit bedeutet, das heißt: den Tod. Sie will nicht weiter leben, weil das Leben - wie  Kreon ihr schon gezeigt hat - eine Anhäufung von Verhandlungen, Selbsttäuschungen und Verzicht mit sich bringt.

Trotzdem sind die Vertreter dieser Theorie – Kreon gleich Nazi-Diktatur, Antigone gleich französische Resistence - so überzeugt davon, dass es unmöglich ist, mit ihnen darüber zu diskutieren. Als ein Schüler im Französischunterricht vor schlug, dass Antigone ein Theaterstück des Existenzialismus sein könnte, wurde der Lehrer ganz sauer auf ihn. Er hat den Schuler gewarnt, dass falls er dies wieder behaupten würde, er ihn durchfallen lassen würde.

Angesichts eines solchen Dilemmas: seine eigene Betrachtungen zu verteidigen oder denen des Lehrers zu folgen, - ein Dilemma, das ohne Zweifel eine existenzielles Entscheidung verlangte - hat der Schuler eine schwierige Wahl getroffen.

Am Tag der Prüfung hat er das geschrieben, was der Lehrer lesen wollte. Er hat die beste Note bekommen.

Authentizität – erklärte der Schüler später - ist was für Tote.

Bis zur nächsten Woche!


Isabel Viñado Gascón