Montag, 30. April 2012

„EIN GROßER MANN“ (1929) von Philippe Soupault


Letzte Woche habe ich Soupaults Buch “Ein großer Mann” erwähnt. Die Geschichte ist einfach: Lucien Gavard ist ein Kind, das kein Interesse für die Schule zeigt. Er ist ein exzentrischer Junge, der sich ständig als Tüftler mit seltsamen mechanischen Artefakten beschäftigt. Er zeigt kein Interesse für die Seidenfabrik des Vaters. Trotzdem ist er mit zwanzig Jahren Millionär. Der Grund: Er entwickelt Autos und gründet ein erfolgreiches Autounternehmen. So sehr, dass die älteren Brüder die Seidenfabrik verlassen und mit dem erfolgreichen Bruder zusammen arbeiten.

Lucien heiratet die Schönheit der kleinen Stadt, in der er lebt.  Die Ehe ist ruhig. Er ist den ganzen Tag mit seinem Geschäft beschäftigt: der Streik der Arbeiter, die Vergrößerung des Unternehmens…

Sie, seine Frau, ist den ganzen Tag mit sich selbst beschäftigt. Ihre Natur ist so melancholisch wie inaktiv und sinnlos. Ihr Leben läuft leer durch die Jahre. Die Geschäfte ihres Mannes beeindrucken sie überhaupt nicht. Die Probleme ihres Mannes bedeuten für sie keine Sorge.

Mann und Frau sind getrennte Wesen, deren Kontakt nur aus höflichen Manieren besteht.

Lucien lebt für die Außenwelt. Claude, die Frau, lebt für sich selbst und ihre eigene und geschlossene  Welt.

Dieses Schema zerbricht als ein schwarzer amerikanischer Sänger in die Stadt kommt: Ralph Putnam. Claude und Ralph fühlen sie sich von einander angezogen.

Inzwischen hat Lucien große Probleme. Seine Autofabriken müssen mit der amerikanischen Automobilindustrie konkurrieren, aber sie sind nicht dafür vorbereitet. Er ist alt und müde. Muss er kämpfen oder nicht?

Claude sitzt neben Putnam, der sein Auto mit hoher Geschwindigkeit fährt. Sie fühlt sich lebendig. Liebt sie ihn? Sie weiß es nicht. Vielleicht symbolisiert er wegen seiner Hautfarbe nur die Nacht, die für sie so wichtig ist. Vielleicht ist er nur etwas ganz anderes als alles, was sie bis jetzt kennengelernt hat.

Sogar der Titel des Buches: „Ein großer Mann“ ist zunächst verwirrend. Man weiß nicht genau, ob er Lucien Gavard oder Putnam meint. Es gibt einige Situationen, wo der Leser sich fragt, ob  nicht  der Titel „Große Männer“ besser gewesen wäre.

Die Frau hat eine sekundäre Rolle. Die Liebe zur Schönheit wegen der Schönheit selbst ist als Lebensinn und als Lebensziel bedeutungslos. Die Schönheit wegen der Schönheit ist immer aseptisch und steril. Deshalb ist sie immer langweilig. Die Nacht ist das Refugium eines Menschen, der kein Interesse für das Leben hat, weil das Leben immer aktiv, unvorhersehbar anders und imperfekt ist. Das Leben ist der Tag.

Plötzlicht erscheint dieser schwarze Sänger. Schwarz wie die Nacht. Perfekt wie das Nichts. Und Claude fühlt sich von ihm angezogen, auch wenn sie nicht ganz sicher ist, ob sie das will oder nicht.

Was rettet Claude in einer solchen Situation?

Erstens, ihre Herkunft: Sie ist eine Provinzfrau. Der Satz „Die Frau des Cäsar muss nicht nur ehrlich sein, sondern auch so aussehen“, ist für sie eine ungeschriebene Norm, eine Pflicht.

Zweitens, die Konfusion der Gefühle von Putnam selbst. Ist das Liebe, Anziehung der Schönheit? Der Wille zu der Beherrschung der weißen Frau? Soupault zweifelt und daher weiß der Leser nicht, ob Putnam nur die Macht über die Frau, die weiße Frau, will, oder ob er wegen der Angst, die er plötzlich bei Claude bemerkt, wütend ist.

Neben diesem emotionalen Kampf, der nichts außer Selbszerstörung bringt, weil er so leer und ziellos ist wie die Protagonisten selbst, tauchen die Probleme von Lucien Gavard auf.

Er hat auf seiner Reise in die USA verstanden wie klein und altmodisch seine Fabriken im Vergleich zu den amerikanischen sind. Und das nicht nur im Vergleich zu seinen Fabriken, sondern im vergleich zu den französischen und europäischen überhaupt. Europa muss seine ganzen Strukturen veränden. Aber Frankreich, Europa sind nicht Menschen. Wir alle machen Frankreich, wir alle machen Europa. Die Frage ist, ob er, Lucien, Kraft genug hat, um zu diesem  „Wir“ zu gehören. Vielleicht ist er einfach zu alt. Vielleicht wäre es besser, wenn er in Pension gehen würde. Er hat genug Kapital, um gut leben zu können bis er und seine Frau sterben. Wäre das nicht das Vernünftigste? Vielleicht. Aber wäre er glücklich? Könnte er nicht versuchen, neue Fabriken mit neuen Schemata, neuen Ingenieuren zu gründen, die über sein eigenes Leben hinaus fortdauern würden?

Das ist die erste Frage, die Lucien Gavard beschäftigt. Die zweite Frage, die ihn kümmert, ist, ob er immer noch genügend Kraft für solche Pläne hat, die so viel Mut verlangen.

Plötzlich wird der große Unternehmer Mensch; und als Mensch wird er ein Mann mit Zweifeln. Neben den Zweifeln über seine eigene Kraft stellt sich die Akzeptanz seiner eigenen Grenzen und Beschränkungen und Bedürfnissen ein. Plötzlich merkt er, dass er ein Kraftzentrum braucht.

Dieses Kraftzentrum hat einen Namen: Claude.

Claude ist der unbewegte Motor wie der von Aristoteles, der bewegt ohne bewegt zu sein. Hier ist der Punkt, wo die Schönheit wichtig, essenziell wird.

Wenn die Schönheit sich mit einem anderen Motor zusammen tut, der so unbeweglich ist wie sie selbst (nämlich Putnam), dann wird sie scheitern. Aber wenn die Schönheit einen anderen bewegt, dann gibt der Bewegte ihrer Existenz einen Sinn und löst sie von ihrer Unfruchbarkeit ab.

Beide, Lucien und Claude retten sich gegenseitig. Lucien, weil er verstanden hat, dass sogar die größten Männer zweifeln und andere brauchen. Claude, weil sie verstanden hat, dass es ihre Mission ist, das Kraftzentrums ihres Mannes zu sein. Ihr Mann braucht ihre Schönheit und ihre ruhigere Präsenz so sehr wie Claude seine Kraft und seinen Glauben an das Leben braucht.

Diese gegenseitige Notwendigkeit ist etwas, das sie nach einer Krise in ihrem Leben entdecken. Emotional in ihrem Fall, beruflich in seinem.

So gesehen ist das Buch ein Lied auf solche Ehepaare, die von außen gesehen keine Liebe für einander haben, nur weil ihre Beziehung aus täglichen Gewohnheiten und Ritualen besteht. Aber gerade diese Gewohnheiten und Rituale sind diejenigen Elemente, die ein friedliches und respektvolles Zusammenleben schaffen und in der Beziehung die Existenz der Freiheit und Toleranz erlauben.

Der große Mann ist nicht der Mann, der triumphiert und ganz oben ist, sondern der Mann, der sich durch die Probleme nicht unterkriegen lässt. Er kann fallen, aber er findet neue Möglichkeiten und neue Energie um aufzustehen. Er findet immer eine neue Hoffnung, einen neuen Grund zu kämpfen. Sein Leben blickt in die Zukunft und über sich hinaus.

Deshalb ist Lucien ein großer Mann. Weil er sich im Gegensatz zu Putnam nicht in der Mitte der Nacht verlieren will. Er will sich nicht in der Unermesslichkeit verlieren. Er will einfach „sein“. Deshalb kämpt er. Und Claude ist sein Motor.

Endlich versteht Claude, wozu sie nötig ist. Dieses Verständnis gibt ihr die Gelassenheit und das Gleichgewicht, ohne Verzweiflung weiter leben zu können. Ihr Leben ist kein extremistisches Leben, weder im Guten noch im Schlechten. Das Extreme zieht sie an (ihre Beziezung mit Putnam ist ein Beispiel) aber gleichzeitig bereitet es ihr unüberwindbare Angst.

Das Extreme bedeutet das Nichts, die Leere. Nur ihr Mann gibt ihr die emotionale Sicherheit. Beide sind also gegenseitige Zentren.

Ist es das, worin Liebe besteht? Soupault glaubt, dass das die einzige Liebe ist. Dagegen zerstört die pure sexuelle Anziehung die Elemente dieser Beziehung und versenkt sie in einen Kampf um Macht und Beherrschung.

Das Buch ist ein Lied auf die Liebe, die genügend Platz für Toleranz und Freiheit gibt. Freiheit bedeutet aber nicht Vernachlässigung. Die Probleme von Claude tauchen auf, weil sie glaubt, dass ihr Mann sie nicht braucht. Ihre emotionalen Zweifel enden als sie spürt, dass ihr Mann sie braucht. Dasselbe passiert Lucien.

Das Buch ist zugleich ein Lied auf die Krise in der Ehe, die nicht immer das Ende einer Ehe bedeuten muss, sondern ein neuer Anfang sein kann; oder besser gesagt, eine neue Weise zusammen durch das Leben zu gehen.

Ich weiß nicht, ob Sie dieses Buch gelesen haben. Ich habe „Onkel Wanja“ und das Buch von Soupault verglichen, weil sie beide dasselbe Thema behandeln, auch wenn sie das aus verschiedener Perspektive tun. Für Tschechow ist die Inaktivität immer gefährlich und zerstörerisch. Für Soupault ist die Inaktivität nützlich, wenn sie einen anderen bewegt und ein Kraftzentrum und Refugium für diesen anderen ist vorausgesetzt, dass der andere aktiv sind.

Bis nächste Woche!

Isabel Viñado Gascón










Dienstag, 17. April 2012

„ONKEL WANJA“ (1896) von Tschechow


In dem Theaterstuck “Onkel Wanja” von Tschechow, finden wir dasselbe Thema wie in “Ein großer Mann” von Philippe Soupault: der Sinn der Existenz und der Einfluss der leeren und gleichgültige Seelen auf die Leben der anderen.

In Soupaults Buch brauchen sich Aktivität und Inaktivität gegenseitig als entgegengesetzte Pole, die sich gegenseitig anziehen. Nächste Woche werden wir über dieses Buch sprechen.

Bei Tschechow ist es anders. Für ihn haben die leeren Seelen keine Tugend oder positive Kennzeichnug. Sie sind keine Motoren, die etwas bewegen ohne bewegt zu sein. Sie können keine Energiezentren bedeuten. Eher das Gegenteil: Sie sind egoistische Seelen. Sie sind unfähig, etwas für die Anderen zu empfinden. Und am Ende schleppen sie den Anderen zur Hölle, zum Nichts, zu derselben existenziellen Sinnlosigkeit, in der sie leben. Wenn wir sie in unserer Nähe leben lassen, sind wir verdammt.

Die leeren Seelen stecken mit ihrer Inaktivität an. Nur wenn wir uns von solchen Seelen entfernen, können wir zur Arbeit zurückkehren.

Die Fragen, die dieses Theaterstuck stellt, sind:

Wozu leben?
Wozu arbeiten?

                 Wir sollten aber zuerst zwei Sätze analysieren.

Der erste Satz lautet:

“Wenn Gott gestorben ist, ist alles erlaubt”

Humanisten wie Dürrenmatt bemerken zu diesem Satz: Es ist nicht wahr. Wenn Gott gestorben ist, ist trotzdem nicht alles erlaubt, weil es einen Mensch und eine Natur gibt. Man muss den Menschen und die Natur respektieren .

Aber Tschechow interessiert sich nicht für diesen Satz, wenigstens nicht direkt. Seine Antwort gilt für einen anderen Satz.

“Wenn Gott gestorben ist, hat nichts einen Sinn”

Gerade gegen diesen Satz kämpft Tschechow. Er meint, solches zu behaupten ist, nicht nur falsch, sondern gefährlich, weil das die Zerstörung des Menschens bedeutet.

Sogar wenn wir in der tiefsten Dunkelheit sind, bleibt etwas an Wert: die Arbeit. Die Arbeit ist so fundamental für Tschechow wie die Menschheit (Humanitas) für Dürrenmatt. Etwas ähnliches sagt Tolstoi in der “Kreutzersonate”, wenn er schreibt, dass der Tod nur Sinn hat, wenn wir kein Ziel haben. Aber wenn wir ein Ziel haben, ist es eine Katastrophe, sterben zu müssen.

Auf jeden Fall haben beide Antworten - die von Dürrenmatt und von Tschechow - einen gemeinsamen Punkt: Der Mensch mit oder ohne Gott hat einen Wert in sich selbst, einfach weil er ein Mensch, ein Lebenswesen, ist.

Aber Tschechow geht viel weiter als die Humanisten. Die reine Existenz bedeutet gar nichts oder  auf jedenfall ganz wenig. Die reine Existenz gibt dem Menschen den selben Status und das selbe Niveau, das die anderen Lebenswesen auch haben. Deshalb kritisiert Tschechow die Gefühllosigkeit der Menschen gegenüber der Natur: weil die Natur aus Lebewesen besteht, die  genau wie die Menschen Recht auf das Leben haben.

Was den Menschen von der Natur unterscheidet ist die Arbeit.

Nach Dürrenmatts Meinung, wenn Gott gestorben ist und alles erlaubt ist, gibt es trotzdem noch etwas, das nicht erlaubt ist: die Zerstörung anderer Lebewesen.

Tschechow meint, wenn Gott gestorben ist, dann gibt es noch etwas, das Wert hat: die Arbeit. Die Arbeit gibt unserer Existenz einen Sinn. Tschechow gibt keine moralische Antwort. Seine Antwort ist rein existenziell. Er geht auf die Suche nach etwas, das Sinn haben kann, wo es keinen Sinn gibt.

Das Theaterstück spricht ein weiteres Problem an: Was passiert, wenn jemand für etwas Sinnloses arbeitet; für etwas, das sich mit den Jahren als etwas Sinnloses erweist, als ein bloßer Verbrauch der eigenen Energien? Was passiert, wenn jemand plötzlich merkt, dass sein Leben unnütz war, wegen eines Ideales, das kein richtiges Ideal war? Was passiert, wenn dieser jemand merkt, dass wenn er seine eigene Energien anders benutzt hätte, sie anderswo hin dirigiert hätte, sein Leben nutzbar oder nutzbarer gewesen ware?

 Das Stück stellt dem Leser vor allem zwei Fragen.

Welche Folgen verursachen die leeren Existenzen, die Tschechow beschreibt und wie kann man gegen sie ankämpfen?

Was passiert, wenn die Samen in dürre Erde fallen?

Die Antwort von Tschechow ist immer einunddieselbe: Arbeiten.

Auch wenn die Arbeit keinen Erfolgt hat oder nicht belohnt worden ist, ist es nötig, weiter zu arbeiten. Die Arbeit ist ein Ziel in sich selbst. Der Mensch entscheidet, was er macht, und für wen er das macht.

Wenn jemand merkt, dass seine Arbeit sinnlos ist, muss er einen Ausweg suchen.

Entweder er wechselt seine Aktivität oder er bleibt bei ihr. Das kommt darauf an, wie mutig er ist. Trotzdem ist es besser eine sinnlose Arbeit zu machen als gar keine. Die Arbeit schafft es, dass wir vergessen, dass es kein Gott gibt. Am Ende unseres Lebens gibt es - wie Astrow aus “Onkel Wanja” sagt - kein Licht.

Tschechows Pessimismus ist ständig präsent. Er zeigt die Entzweiung mit der Natur und die Undankbarkeit derer, denen wir geholfen haben.

Trotzdem gibt es etwas, was uns immer und immer wieder retten kann: die Arbeit.

Bis nächsteWoche!
Isabel Viñado Gascón