Mittwoch, 30. Juni 2021

Der philosophische Begriff des Modells

Es ist schwierig, den Begriff „Modell“ zu analysieren, ohne ihn zuvor von anderen Begriffen zu unterscheiden, die in der alltäglichen Sprache als Synonyme von „Modell“ verwenden werden: insbesondere „System“ und „Vorstellung“. Das Büchlein „Kleines Philosophisches Wörterbuch“ (1) der Herausgeber Max Müller und Alois Halder ist mir dabei eine große Hilfe gewesen.

Dort findet man zwar keinen Eintrag unter dem Begriff „Modell“; doch aber unter dem Begriff „Bild“, was sehr wichtig und hilfreich ist. Ein Modell ist ein Vor-Bild. Ein Bild hat, in der Tat, etwas „Visuelles“ und auch etwas „Ideelles“, fast „intuitiv“.

Bild, die sinnlichen, ganzheitlich-gestalthaften Konfigurationen von Wirklichem, das in unmittelbarer Anschauung oder als Erinnertes gegenwärtig ist, und zwar als Bedeutungsträger mit Verweisungsfunktion. (…) Mit dem als Maßstab angenommenen Vor-B stellen sich dann die Fragen der rechten Übereinstimmung zwischen beiden (…)“ (S.47)

Bild hat etymologisch auch mit Bildung zu tun. Wenn man diesen Begriff im Wörterbuch nachschlägt, kann man lesen:

Bildung, die grundsätzliche Orientierung des ganzen Menschseins (Intellekt, Wille und Gefühl) im Ganzen des Seins, der „Welt“ worin allem Begegnenden Ort, Maß und Sinn zugeteilt ist. (…) Bildung geschieht in Schule oder Leben, mit oder ohne Lehrer, immer als Bildung der Freiheit. Die Freiheit als einziges ist niemals partikulär. (…) Eine Theorie der Bildung ist mit dem Aufweis einer sinn- und maßgebenden Weltordnung deshalb zugleich der Entwurf einer Theorie des freien Menschseins und seiner Möglichkeiten. (S.47/48)

Die B.s-krise der Gegenwart hat ihre eigentliche Ursache darin, dass das menschliche Wissen und Können zwar in Bezug auf die Beherrschung einzelner Gebiete und entsprechend auf die Ausbildung einzelne Fähigkeiten sich außerordentlich gesteigert haben, aber damit gleichzeitig die leitende und verbindende Selbstverständlichkeit des Sinnganzes, der Welt, geschwunden ist, innerhalb deren die Freiheit erst wirklich frei sei kann und ohne den sie in orientierungslose Willkür umschlägt. B.s-krise dokumentiert Welt- und Freiheitskrise. Sie wird durch die gewaltsame Herstellung neuer Totalentwürfe (…) nicht behoben, sondern nur verdeckt.“

Zum Begriff „System“ lesen wir: „System (griech.), die Zusammenstellung, der Zusammenschluss einer Mannigfaltigkeit zu einem von innen her durchgegliederten Ganzen. (…) Seine eigentliche Bedeutung erhält er aber in der Moderne. Hier meint S. einen Zusammenschluss, worin das Einzelne nicht mehr durch sein Wesen, sondern durch seine Funktion beschrieben wird. (…) S.e sind nur arbeitsfähig, soweit sie vollständig, dann aber auch abgeschlossen, perfekt sind. (S.269)

Schließlich finden wir unter „Vorstellung“ die folgende Erläuterung: „Vorstellung, als Vorstellen eine Grundweise menschlicher Bewusstseinstätigkeit, wodurch ein dem Bewusstsein Begegnendes von diesem als Gegenstand entgegengenommen wird. Damit ist V. eine bestimmte Realisation des Verhältnisses von Ich u. Welt, wobei das als Bewusstsein bestimmte Ich als Zentrum fungiert. „ (S.297)

Was ist ein Modell?

Negativ betrachtet ist ein Modell kein System, keine individuelle Vorstellung und kein Axiom.

 

1.      Ein Modell ist keine individuelle Vorstellung. Es ist ein Bild, dementsprechend die Gesellschaft ihre Wirklichkeit gemeinsam gestalten will. Fehlt es an dieser Gemeinsamkeit, so kann dieses Modell nur durch die Gewalt Weniger erreicht werden, was nicht nur Brutalität, sondern auch Fragilität bedeutet. Dieses gemeinsame Bild verlangt auch nicht eine isolierte Idee, sondern eine geteilte aktive Überzeugung, was viele den „lebendigen Glauben“ nennen.

 

2.      Ein Modell ist kein System. Es ist kein System, weil das System in die Wirklichkeit eingezogen ist. Das Modell dagegen steht außerhalb der Wirklichkeit. Anders als in einem System, wo die Individuen eine Funktion erledigen, erfüllen sie in einem Modell Aufgaben, die sie transzendieren.

 

3.      Ein Modell ist kein ewiges Axiom. Das Modell ist eine Arbeitshypothese, die auf einem Axiom beruht. Ich behaupte, dass das Modell kein Axiom ist. Denn wäre es ein Axiom, so wäre das Modell unabhängig von der Wirklichkeit und unserer eigenen Existenz. Wie bereits oben gesagt, dient das Modell vor allem als orientierende Bezugsgröße zur Wirklichkeitsgestaltung.

 

Ohne die Existenz der Wirklichkeit wäre die Existenz des Modells sinnlos. Wahrlich, das Modell ist ein ideales Bild, an das man die Wirklichkeit annähern will. Aber man muss auch akzeptieren, dass eine Überstimmung zwischen Modell und Wirklichkeit so schwierig ist wie die Überstimmung zwischen der Vorstellung eines Künstlers und seines Werks.

Das Modell ist ein ideales Bild, dessen Realisierung in der Wirklichkeit im Zusammenhang mit dem Begriff „Bildung“ zu analysieren ist.  „Bildung“ hat tatsächlich hierfür eine große und unentbehrliche Bedeutung. Je höher und tiefer zugleich die Bildung ist, desto leichter für die es, die Wirklichkeit entsprechend dem (idealem) Modell (Bild) zu gestalten.

Das Modell ist „Ideal“ in dem Sinn, dass dieses Bild etwas für die Wirklichkeit Unerreichbares in sich trägt, weil die Wirklichkeit immer durch materielle Bedingungen begrenzt ist. Das Modell ist kein Plan, sondern ein Bild, das noch nicht ist.

 In dieser Hinsicht ist dieses Bild ein ideales Bild, weil es zwar außerhalb der Wirklichkeit existiert, aber dennoch nicht unabhängig von ihr.

Wie entsteht ein Modell?

Viele Ansätze sind denkbar: liegt ein Modell eine Mehrheitsentscheidung oder die eines mächtigen Einzelnen zu Grunde? Entstehen Modelle aus vorgefundenen kulturellen Bedingungen wie Religion, Ideologie oder Zeitgeist? Sind Modelle geschichtlich oder werden sie aus dem Jetzt geschöpft.

Die möglichen Antworten unterscheiden sich sehr.

Wir sollten bei der Suche nach Antworten folgende Aspekte berücksichtigen:

1.      Wie ich oben gesagt habe, ist ein Modell immer eine geteilte gemeinsame Überzeugung.

2.      Ein Modell hat viele Perspektiven, aber es selbst ist keine Perspektive. Das Modell kann auch nicht etwas Provisorisches oder Relativistisches sein. Das verhindert jede Gestaltung.

3.      Ein Modell ist kein Axiom, aber es bezieht sich immer auf ein Axiom. Man könnte sagen, dass das Modell eine Konkretisierung des Axioms ist. Es ist unbeachtlich, ob dieses Axiom das Gute, das Gemeinwohl, die Rettung der Erde oder die Gerechtigkeit ist. In dieser Hinsicht entsteht immer ein Problem, wenn es in der Gesellschaft gibt. Eine Burg darf viele Türme haben, verschiedene Säle und Räume. Dennoch soll dieses Bauwerk eine Burg und keine Kathedrale sein. Eine Kathedrale darf viele helle Glasfenster und Ornamente enthalten, und auch hohe und schön skulpturierte Säulen dürfen die Kathedrale tragen. Dieses Bauwerk aber soll eine Kathedrale und kein Palast sein. Jedes Gebäude trägt einen bestimmten Geist in sich. Die Errichtung eines jeden dieser Bauwerke erfordert viel Kraft.

 

a)      Man braucht innere Kraft, um dem Modell weiter zu folgen (und es zu vollenden), bis zum Ende. Ein Modell kann Veränderung wegen Not, Mangel und daher Flexibilität ertragen; aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Ansonsten entsteht die Gefahr, dass diese Flexibilität zu „höchster Flexibilität“ wird, was ein Euphemismus für Wahllosigkeit oder sogar Zynismus bedeuten mag.

b)      Wenn eine Gesellschaft gleichzeitig viele Modelle in der Wirklichkeit realisieren will, braucht sie sowohl eine extrem hohe Dosis an Überzeugung für ihre eigene Konstruktion, wie auch eine extrem hohe Dosis an Toleranz, für die Realisierungen der anderen.

c)      Wenn eine Gesellschaft diese Kraft nicht in sich trägt, werden die Realisierungen alle dieser Modelle vor ihrer Vollendung aufgegeben.

d)      Wenn eine Gesellschaft diese Kraft nicht in sich trägt, ist Chaos und Konflikt vorhergesagt.

e)      Wenn eine Gesellschaft kein Modell hat, fällt sie dem Nihilismus anheim.

Krise des Modells

In unserer Zeit stehen wir genau vor zwei Problemen:

1.      Es gibt so viele „mögliche“ Modelle, dass entweder niemand sich auf ein Modell festlegen will, oder man alle gleichzeitig realisieren will.

2.      Das Nihilismus oder die Krise des Glaubens ist so tief verankert, dass jeder Versuch, etwas aufzubauen (realisieren) in sich zusammen fällt.

Die aktuelle Situation ist so, dass man zwar Modelle hat, aber kein Modell will. Diese Krise findet ihre Quelle in der Krise der Freiheit, welche in der Krise der Bildung begründet liegt. 

Das Nihilismus verkompliziert alles: Man will eine absolute Freiheit, aber diese absolute Freiheit kann keine Modelle entwerfen, gerade weil dies für den Nihilismus konzeptuell unmöglich ist. Der Nihilismus, der eine absolute Freiheit bedeutet und verlangt, verhindert gleichzeitig jeden Aufbau, weil diese absolute Freiheit es den Individuen unmöglich macht, dass sie sich auf irgendein Modellen festlegen – gleichgültig welches.

Es bleiben zwei Möglichkeiten, die aber keine richtigen Lösungen bringen:

a)      Das Individuum zieht sich in seine eigenen und privaten Vorstellungen zurück. Statt „Maurer“ oder „Steinmetz“ wird das Individuum „Künstler“. Was kommt sind Sätze wie diese hier: „Ich“ schaffe „die Welt“. „Die Welt“ ist, wovon „Ich sage“, dass es „die Welt“ ist.“

„Die Welt“ existiert nicht nur im Einklang mit den individuellen Vorstellungen: „die Welt“ passt sich an die individuellen Vorstellungen an.“

Solche Sätze tragen jedoch keine künstlerische Kreativität, sondern nur eine fragile Egolatrie in sich, die in Begleitung der individuellen Phantasmagorien, Projektionen und sogar Alpträume erscheint.

Unter diesen Umständen haben die Individuen keine Aufgabe mehr. Die Individuen sind nur eine Rolle, die sie in den Vorstellungen-Stücken vor den anderen und sogar vor sich selbst spielen.

Da jeder seine eigenen Vorstellungen in der Wirklichkeit gelten machen will, ist der Krieg zwischen dem Einzelnen, seinen privaten Vorstellungen und Phantasmagorien im Gang.

 

b)      Um diesen Krieg der Egolatrien zu vermeiden oder zu beenden, entsteht früher oder später ein System.

Anders als das Modell, das außerhalb der Gesellschaft bleibt, ist das System in der Wirklichkeit selbst verankert. Das System formt die Wirklichkeit. Es ist nicht mehr die Bezugsgröße, in Bezug auf welche eine Gesellschaft ihre Wirklichkeit aufbaut. Es existiert keine Gesellschaft mehr. Das System ist jetzt dasjenige, was die Wirklichkeit konfiguriert und ordnet.

Das System stellt das Individuum ein. Es setzt es an einen bestimmten Punkt. Die Linien sind keine Richtungslinien; sie verbinden lediglich einen Punkt mit einem anderen oder mehrere. Das System ist geschlossen. Das heißt: Das System ernährt und schützt sich selbst. Die Individuen sind bloße und reine Funktionen.

Das Ziel des Systems ist niemals die Konstruktion, weil das System per Definition etwas Vollständiges und in sich Geschlossenes ist. Das Ende des Systems ist die Erweiterung von sich selbst und die Eroberung und Integration von allem, was noch außerhalb steht.

In einem System werden die Individuen nur Schrauben mit mehr oder weniger Gehalt, Ehre oder Prestige, je nachdem welche Sorte von Schraube sie sind.

Außerhalb des Systems gibt es nichts. Nur den Tod.

Was bedeutet der Tod in einem System? Was verursacht der Tod in einem System?

Die Funktionslosigkeit.

 

Wir haben gesagt:

a)      Das System ist in der Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit verankert.

b)      Das System schützt sich selbst.

Wir müssen jetzt sagen, dass der Selbstschutz des Systems wichtiger als die Wirklichkeit selbst ist. Das heißt: Zwischen dem Überleben des Systems und dem Überleben der Wirklichkeit, wird das System jeden Mechanismus, das für sein eigenes Überleben notwendig ist, aktivieren. Das Überleben der Wirklichkeit ist dagegen nur solange wichtig als es für das Überleben des Systems nötig ist.

Diese moderne Konfrontation zwischen „System“ und „Antisystem“ ist sinnlos. Das System arbeitet dialektisch. Jede Antisystem wird daher früher oder später in das System integriert. Nicht nur das: Das Antisystem hilft dem Wachstum und der Entwicklung des Systems.

Hegels idealistisches System ist ebenso geschlossen und klaustrophobisch wie seine Inversion: das materialistische System (ob man es nun marxistisch, nihilistisch oder wie auch immer benennt).

Ein Modell kann aufgegeben werden.  Ein Leitbild oder eine Richtlinie verlangt die Erfüllung von Aufgaben und dies impliziert die Forderung nach einem Ethos. Der Mensch hat eine Verantwortung für seine Aufgabe, die über deren bloße Funktion, wie es im System der Fall ist, hinausgeht. Deshalb fordert das Modell eine verantwortungsvolle und standhafte Freiheit:  Das sind die eigentlichen Grundlagen eines jeden Ethos. In einem Modell sind die Individuen ethische Wesen.

Bei einem Modell ist es nicht möglich, zwischen privater Moral und öffentlicher Moral zu unterscheiden, da sich sowohl die Moral als auch das Private nach Überzeugungen bilden. Dagegen befreit das System den funktionierenden Menschen von jeglichen ethischen Überzeugungen.

Bei einem Modell ist es notwendig zu denken, um zu existieren. Descartes berühmtes "cogito ergo sum" macht sich bemerkbar.

Im System muss man nicht denken. Das Denken ist riskant und kann sogar gefährlich sein. Das Einzige, was zählt, ist zu funktionieren.

Descartes rebellischer Schrei "cogito ergo sum" wird von Kants Schlachtruf "sapere aude" begleitet.

Ein Modell verlangt Bildung.

In einem System gibt es nur ein Motto: "Es funktioniert und carpe diem".

Ein System verlangt nur Erziehung.

Ein Modell verlangt Freiheit.

Ein System verlangt Kontrolle.

Eine Demokratie ist ein Modell, kein System.

Eine Diktatur – auch wenn man diese Diktatur beschönigend „Autoritarismus“ nennt – ist immer ein System.

Isabel Viñado Gascon.

(1)   „Kleines Philosophisches Wörterbuch“. Herderbücherei. Herausgegeben von Max Müller und Alois Halder. Herder-Taschenbuch. 11 Auflage März 1984. Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1984