Es ist schwierig, den Begriff „Modell“ zu analysieren,
ohne ihn zuvor von anderen Begriffen zu unterscheiden, die in der alltäglichen Sprache
als Synonyme von „Modell“ verwenden werden: insbesondere „System“ und
„Vorstellung“. Das Büchlein „Kleines Philosophisches Wörterbuch“ (1) der
Herausgeber Max Müller und Alois Halder ist mir dabei eine große Hilfe gewesen.
Dort findet man zwar keinen
Eintrag unter dem Begriff „Modell“; doch aber unter dem Begriff „Bild“, was
sehr wichtig und hilfreich ist. Ein Modell ist ein Vor-Bild. Ein Bild hat, in
der Tat, etwas „Visuelles“ und auch etwas „Ideelles“, fast „intuitiv“.
„Bild, die
sinnlichen, ganzheitlich-gestalthaften Konfigurationen von Wirklichem, das in
unmittelbarer Anschauung oder als Erinnertes gegenwärtig ist, und zwar als
Bedeutungsträger mit Verweisungsfunktion. (…) Mit dem als Maßstab angenommenen
Vor-B stellen sich dann die Fragen der rechten Übereinstimmung zwischen beiden
(…)“ (S.47)
Bild hat etymologisch
auch mit Bildung zu tun. Wenn man diesen Begriff im Wörterbuch nachschlägt,
kann man lesen:
„Bildung, die
grundsätzliche Orientierung des ganzen Menschseins (Intellekt, Wille und
Gefühl) im Ganzen des Seins, der „Welt“ worin allem Begegnenden Ort, Maß und
Sinn zugeteilt ist. (…) Bildung geschieht in Schule oder Leben, mit oder ohne
Lehrer, immer als Bildung der Freiheit. Die Freiheit als einziges ist
niemals partikulär. (…) Eine Theorie der Bildung ist mit dem Aufweis einer
sinn- und maßgebenden Weltordnung deshalb zugleich der Entwurf einer Theorie
des freien Menschseins und seiner Möglichkeiten. (S.47/48)
Die B.s-krise der
Gegenwart hat ihre eigentliche Ursache darin, dass das menschliche Wissen und
Können zwar in Bezug auf die Beherrschung einzelner Gebiete und entsprechend
auf die Ausbildung einzelne Fähigkeiten sich außerordentlich gesteigert haben,
aber damit gleichzeitig die leitende und verbindende Selbstverständlichkeit des
Sinnganzes, der Welt, geschwunden ist, innerhalb deren die Freiheit erst
wirklich frei sei kann und ohne den sie in orientierungslose Willkür umschlägt.
B.s-krise dokumentiert Welt- und Freiheitskrise. Sie wird durch die gewaltsame
Herstellung neuer Totalentwürfe (…) nicht behoben, sondern nur verdeckt.“
Zum Begriff „System“
lesen wir: „System (griech.), die Zusammenstellung, der Zusammenschluss
einer Mannigfaltigkeit zu einem von innen her durchgegliederten Ganzen. (…)
Seine eigentliche Bedeutung erhält er aber in der Moderne. Hier meint S. einen
Zusammenschluss, worin das Einzelne nicht mehr durch sein Wesen, sondern durch
seine Funktion beschrieben wird. (…) S.e sind nur arbeitsfähig, soweit sie
vollständig, dann aber auch abgeschlossen, perfekt sind. (S.269)
Schließlich finden wir
unter „Vorstellung“ die folgende Erläuterung: „Vorstellung, als
Vorstellen eine Grundweise menschlicher Bewusstseinstätigkeit, wodurch ein dem
Bewusstsein Begegnendes von diesem als Gegenstand entgegengenommen wird. Damit
ist V. eine bestimmte Realisation des Verhältnisses von Ich u. Welt, wobei das
als Bewusstsein bestimmte Ich als Zentrum fungiert. „ (S.297)
Was ist ein Modell?
Negativ
betrachtet ist ein Modell kein System, keine individuelle Vorstellung und kein
Axiom.
1. Ein
Modell ist keine individuelle Vorstellung. Es ist ein Bild, dementsprechend die
Gesellschaft ihre Wirklichkeit gemeinsam gestalten will. Fehlt es
an dieser Gemeinsamkeit, so kann dieses Modell nur durch die Gewalt Weniger erreicht
werden, was nicht nur Brutalität, sondern auch Fragilität bedeutet. Dieses
gemeinsame Bild verlangt auch nicht eine isolierte Idee, sondern eine geteilte
aktive Überzeugung, was viele den „lebendigen Glauben“ nennen.
2. Ein
Modell ist kein System. Es ist kein System, weil das System in die Wirklichkeit
eingezogen ist. Das Modell dagegen steht außerhalb der Wirklichkeit. Anders als
in einem System, wo die Individuen eine Funktion erledigen, erfüllen sie in
einem Modell Aufgaben, die sie transzendieren.
3. Ein
Modell ist kein ewiges Axiom. Das Modell ist eine Arbeitshypothese, die auf einem
Axiom beruht. Ich behaupte, dass das Modell kein Axiom ist. Denn wäre es ein
Axiom, so wäre das Modell unabhängig von der Wirklichkeit und unserer eigenen
Existenz. Wie bereits oben gesagt, dient das Modell vor allem als orientierende
Bezugsgröße zur Wirklichkeitsgestaltung.
Ohne die Existenz der Wirklichkeit wäre die Existenz
des Modells sinnlos. Wahrlich, das Modell ist ein ideales Bild, an das man die
Wirklichkeit annähern will. Aber man muss auch akzeptieren, dass eine
Überstimmung zwischen Modell und Wirklichkeit so schwierig ist wie die
Überstimmung zwischen der Vorstellung eines Künstlers und seines Werks.
Das Modell ist ein
ideales Bild, dessen Realisierung in der Wirklichkeit im Zusammenhang mit dem
Begriff „Bildung“ zu analysieren ist. „Bildung“ hat tatsächlich hierfür eine große
und unentbehrliche Bedeutung. Je höher und tiefer zugleich die Bildung ist,
desto leichter für die es, die Wirklichkeit entsprechend dem (idealem) Modell
(Bild) zu gestalten.
Das Modell ist „Ideal“ in
dem Sinn, dass dieses Bild etwas für die Wirklichkeit Unerreichbares in sich
trägt, weil die Wirklichkeit immer durch materielle Bedingungen begrenzt ist.
Das Modell ist kein Plan, sondern ein Bild, das noch nicht ist.
In dieser Hinsicht ist dieses Bild ein ideales
Bild, weil es zwar außerhalb der Wirklichkeit existiert, aber dennoch nicht
unabhängig von ihr.
Wie entsteht ein Modell?
Viele Ansätze sind
denkbar: liegt ein Modell eine Mehrheitsentscheidung oder die eines mächtigen
Einzelnen zu Grunde? Entstehen Modelle aus vorgefundenen kulturellen
Bedingungen wie Religion, Ideologie oder Zeitgeist? Sind Modelle geschichtlich
oder werden sie aus dem Jetzt geschöpft.
Die möglichen Antworten unterscheiden
sich sehr.
Wir sollten bei der Suche
nach Antworten folgende Aspekte berücksichtigen:
1.
Wie ich oben gesagt habe, ist ein Modell
immer eine geteilte gemeinsame Überzeugung.
2.
Ein Modell hat viele Perspektiven, aber es
selbst ist keine Perspektive. Das Modell kann auch nicht etwas Provisorisches
oder Relativistisches sein. Das verhindert jede Gestaltung.
3.
Ein Modell ist kein Axiom, aber es bezieht
sich immer auf ein Axiom. Man könnte sagen, dass das Modell eine Konkretisierung
des Axioms ist. Es ist unbeachtlich, ob dieses Axiom das Gute, das Gemeinwohl,
die Rettung der Erde oder die Gerechtigkeit ist. In dieser Hinsicht entsteht
immer ein Problem, wenn es in der Gesellschaft gibt. Eine Burg darf viele Türme
haben, verschiedene Säle und Räume. Dennoch soll dieses Bauwerk eine Burg und keine
Kathedrale sein. Eine Kathedrale darf viele helle Glasfenster und Ornamente enthalten,
und auch hohe und schön skulpturierte Säulen dürfen die Kathedrale tragen. Dieses
Bauwerk aber soll eine Kathedrale und kein Palast sein. Jedes Gebäude trägt
einen bestimmten Geist in sich. Die Errichtung eines jeden dieser Bauwerke
erfordert viel Kraft.
a) Man
braucht innere Kraft, um dem Modell weiter zu folgen (und es zu vollenden), bis
zum Ende. Ein Modell kann Veränderung wegen Not, Mangel und daher Flexibilität
ertragen; aber nur bis zu einer bestimmten Grenze. Ansonsten entsteht die Gefahr,
dass diese Flexibilität zu „höchster Flexibilität“ wird, was ein Euphemismus
für Wahllosigkeit oder sogar Zynismus bedeuten mag.
b) Wenn
eine Gesellschaft gleichzeitig viele Modelle in der Wirklichkeit realisieren
will, braucht sie sowohl eine extrem hohe Dosis an Überzeugung für ihre eigene
Konstruktion, wie auch eine extrem hohe Dosis an Toleranz, für die Realisierungen
der anderen.
c) Wenn
eine Gesellschaft diese Kraft nicht in sich trägt, werden die Realisierungen
alle dieser Modelle vor ihrer Vollendung aufgegeben.
d) Wenn
eine Gesellschaft diese Kraft nicht in sich trägt, ist Chaos und Konflikt vorhergesagt.
e) Wenn
eine Gesellschaft kein Modell hat, fällt sie dem Nihilismus anheim.
Krise des Modells
In unserer Zeit stehen
wir genau vor zwei Problemen:
1.
Es gibt so viele „mögliche“ Modelle, dass
entweder niemand sich auf ein Modell festlegen will, oder man alle gleichzeitig
realisieren will.
2.
Das Nihilismus oder die Krise des Glaubens
ist so tief verankert, dass jeder Versuch, etwas aufzubauen (realisieren) in
sich zusammen fällt.
Die aktuelle Situation
ist so, dass man zwar Modelle hat, aber kein Modell will. Diese Krise findet
ihre Quelle in der Krise der Freiheit, welche in der Krise der Bildung
begründet liegt.
Das Nihilismus verkompliziert
alles: Man will eine absolute Freiheit, aber diese absolute Freiheit kann keine
Modelle entwerfen, gerade weil dies für den Nihilismus konzeptuell unmöglich ist.
Der Nihilismus, der eine absolute Freiheit bedeutet und verlangt, verhindert
gleichzeitig jeden Aufbau, weil diese absolute Freiheit es den Individuen
unmöglich macht, dass sie sich auf irgendein Modellen festlegen – gleichgültig
welches.
Es bleiben zwei
Möglichkeiten, die aber keine richtigen Lösungen bringen:
a)
Das Individuum zieht sich in seine eigenen
und privaten Vorstellungen zurück. Statt „Maurer“ oder „Steinmetz“ wird das
Individuum „Künstler“. Was kommt sind Sätze wie diese hier: „Ich“ schaffe „die
Welt“. „Die Welt“ ist, wovon „Ich sage“, dass es „die Welt“ ist.“
„Die
Welt“ existiert nicht nur im Einklang mit den individuellen Vorstellungen: „die
Welt“ passt sich an die individuellen Vorstellungen an.“
Solche
Sätze tragen jedoch keine künstlerische Kreativität, sondern nur eine fragile
Egolatrie in sich, die in Begleitung der individuellen Phantasmagorien,
Projektionen und sogar Alpträume erscheint.
Unter
diesen Umständen haben die Individuen keine Aufgabe mehr. Die Individuen
sind nur eine Rolle, die sie in den Vorstellungen-Stücken vor den anderen und
sogar vor sich selbst spielen.
Da
jeder seine eigenen Vorstellungen in der Wirklichkeit gelten machen will, ist
der Krieg zwischen dem Einzelnen, seinen privaten Vorstellungen und
Phantasmagorien im Gang.
b)
Um diesen Krieg der Egolatrien zu
vermeiden oder zu beenden, entsteht früher oder später ein System.
Anders
als das Modell, das außerhalb der Gesellschaft bleibt, ist das System in der
Wirklichkeit selbst verankert. Das System formt die Wirklichkeit. Es ist nicht
mehr die Bezugsgröße, in Bezug auf welche eine Gesellschaft ihre Wirklichkeit aufbaut.
Es existiert keine Gesellschaft mehr. Das System ist jetzt dasjenige, was die
Wirklichkeit konfiguriert und ordnet.
Das
System stellt das Individuum ein. Es setzt es an einen bestimmten Punkt. Die
Linien sind keine Richtungslinien; sie verbinden lediglich einen Punkt mit
einem anderen oder mehrere. Das System ist geschlossen. Das heißt: Das System
ernährt und schützt sich selbst. Die Individuen sind bloße und reine
Funktionen.
Das
Ziel des Systems ist niemals die Konstruktion, weil das System per Definition
etwas Vollständiges und in sich Geschlossenes ist. Das Ende des Systems ist die
Erweiterung von sich selbst und die Eroberung und Integration von allem, was noch
außerhalb steht.
In
einem System werden die Individuen nur Schrauben mit mehr oder weniger Gehalt,
Ehre oder Prestige, je nachdem welche Sorte von Schraube sie sind.
Außerhalb
des Systems gibt es nichts. Nur den Tod.
Was
bedeutet der Tod in einem System? Was verursacht der Tod in einem System?
Die
Funktionslosigkeit.
Wir
haben gesagt:
a) Das
System ist in der Wirklichkeit und mit der Wirklichkeit verankert.
b) Das
System schützt sich selbst.
Wir müssen jetzt sagen,
dass der Selbstschutz des Systems wichtiger als die Wirklichkeit selbst ist.
Das heißt: Zwischen dem Überleben des Systems und dem Überleben der
Wirklichkeit, wird das System jeden Mechanismus, das für sein eigenes Überleben
notwendig ist, aktivieren. Das Überleben der Wirklichkeit ist dagegen nur
solange wichtig als es für das Überleben des Systems nötig ist.
Diese moderne
Konfrontation zwischen „System“ und „Antisystem“ ist sinnlos. Das System
arbeitet dialektisch. Jede Antisystem wird daher früher oder später in das
System integriert. Nicht nur das: Das Antisystem hilft dem Wachstum und der Entwicklung
des Systems.
Hegels idealistisches
System ist ebenso geschlossen und klaustrophobisch wie seine Inversion: das
materialistische System (ob man es nun marxistisch, nihilistisch oder wie auch immer
benennt).
Ein Modell kann
aufgegeben werden. Ein Leitbild oder
eine Richtlinie verlangt die Erfüllung von Aufgaben und dies impliziert die
Forderung nach einem Ethos. Der Mensch hat eine Verantwortung für seine
Aufgabe, die über deren bloße Funktion, wie es im System der Fall ist,
hinausgeht. Deshalb fordert das Modell eine verantwortungsvolle und standhafte
Freiheit: Das sind die eigentlichen
Grundlagen eines jeden Ethos. In einem Modell sind die Individuen ethische
Wesen.
Bei einem Modell ist es
nicht möglich, zwischen privater Moral und öffentlicher Moral zu unterscheiden,
da sich sowohl die Moral als auch das Private nach Überzeugungen bilden. Dagegen
befreit das System den funktionierenden Menschen von jeglichen ethischen
Überzeugungen.
Bei einem Modell ist es
notwendig zu denken, um zu existieren. Descartes berühmtes "cogito ergo
sum" macht sich bemerkbar.
Im System muss man nicht
denken. Das Denken ist riskant und kann sogar gefährlich sein. Das Einzige, was
zählt, ist zu funktionieren.
Descartes rebellischer
Schrei "cogito ergo sum" wird von Kants Schlachtruf "sapere aude"
begleitet.
Ein Modell verlangt
Bildung.
In einem System gibt es
nur ein Motto: "Es funktioniert und carpe diem".
Ein System verlangt nur
Erziehung.
Ein Modell verlangt
Freiheit.
Ein System verlangt
Kontrolle.
Eine Demokratie ist ein
Modell, kein System.
Eine Diktatur – auch wenn
man diese Diktatur beschönigend „Autoritarismus“ nennt – ist immer ein System.
Isabel Viñado Gascon.
(1)
„Kleines Philosophisches Wörterbuch“.
Herderbücherei. Herausgegeben von Max Müller und Alois Halder.
Herder-Taschenbuch. 11 Auflage März 1984. Herstellung: Freiburger Graphische
Betriebe 1984